Photos © Arno Declair (Staatsoper Hamburg, Premiere 2018)
Ludwig van Beethoven, Fidelio
Kent Nagano, Dirigent
Jennifer Holloway, Sopran
Matthew Polenzani, Tenor
Franz-Josef Selig, Bass
Leigh Melrose, Bariton
Narea Son, Sopran
Daniel Kluge, Tenor
Chor der Staatsoper Hamburg
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Georges Delnon, Inszenierung
Staatsoper Hamburg, 16. November 2023
von Dr. Andreas Ströbl
Als „Katastrophe“ wurde Beethovens „Fidelio“ an der Hamburger Staatsoper in der Inszenierung von Georges Delnon in der Presse nach der Premiere am 17. Januar 2018 bezeichnet, die Adjektive erstreckten sich über ein Spektrum von „langweilig“ und „quälend“ bis „klischeehaft“.
Offensichtlich lag in der musikalischen Umsetzung damals einiges im Argen, was die reine Wiedergabe der Partitur unter Kent Naganos Dirigat und das Zusammenspiel von Orchester, Chor und Solisten angeht; auch scheint die Personen- und Bewegungsregie nicht detailliert ausgearbeitet gewesen zu sein.
Am Abend des 16. November 2023 zumindest war von den genannten Kritikpunkten nichts zu hören oder zu sehen – an dieser Produktion stimmt, so wie sie jetzt ist, einfach alles. Auch das Diktum der angeblichen Unaufführbarkeit der Oper verblasst angesichts einer gelungenen und stimmigen Aktualisierung bzw. der Versetzung der Handlung in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts in die DDR – zumindest riecht das Bühnenbild von Kaspar Zwimpfer nach VEB-Linoleum und Angstschweiß; die Kostüme von Lydia Kirchleitner sind ganz offensichtlich vom Aussehen der Stasi-Schergen und dem Inhalt von Westpaketen inspiriert. Die Uniformjacken der Gefängnis-Angestellten wirken unspezifisch osteuropäisch, was den Vorwurf einer allzu platten Transfer-Leistung entkräftet.
Irgendwie geht es um Deutschland, was der romantisch grüne Wald, den man durch die Fenster des großen Verwaltungsraumes, in dem die Handlung spielt, sehen kann. Der Wind bewegt sanft die Blätter und zweimal zoomt eine imaginäre Kamera zwischen die Bäume hindurch; im ersten Akt pirscht man sich gleichsam an eine Damhirschkuh heran, im zweiten Akt ist es ein weißer Wolf. Dieses Spiel mit Klischees, nämlich der deutschen Wald-Idyllen-Sehnsucht mit Märchen-Versatzstücken und archetypischen Bildern der Romantik, ist ironisch gemeint, liebe Kolleginnen und Kollegen. Der erst prachtvoll grüne, später graue und dann zum kahlen Deutschland-Wintermärchen entlaubte Wald zitiert Projektionsflächen und ikonographisch umgesetzte Literatur-Versatzstücke. Auch dass die Blätter zum glücklichen Finale hin grüne Knospen zeigen, illustriert zwar die Hoffnung, aber dies und die weiße Uniformkleidung des Chors (Einstudierung Eberhard Friedrich), die ein bisschen an die Persil-Reklame der 20er Jahre erinnert, arbeitet immer noch mit etwas Augenzwinkern und einer Brechung, die verrät: So toll kann das alles gar nicht sein.
Hoffen aber darf und muss man. Und an die Freiheit glauben, nach der sich die Gefangenen in ihrem Chor „O welche Lust, in freier Luft den Atem leicht zu heben!“ sehnen. Die Textstelle „Sprecht leise! Haltet euch zurück! Wir sind belauscht mit Ohr und Blick“ weckt in jedem, der in seiner Kindheit oder Jugend die Ostverwandtschaft besucht hat, unangenehme Erinnerungen. Treffender geht es nicht. Dennoch steht nirgendwo ein Wimpel mit der DDR-Fahne herum oder Honecker blickt in schwarz-weiß von einer der Wände auf die Billig-Furnier-Möbel herab, was insgesamt ein bisschen an Christoph Marthalers Inszenierungen aus den 90er Jahren erinnert. Man weiß, dass man das alles kennt, aber es bleiben noch Interpretationsspielräume offen.
Spießig und mittelmäßig ist die ganze Einrichtung und hinter der Blümchentapete lauert das Grauen, die Banalität des Bösen ist auch hier viel realistischer als das Spiel mit Effekten und vordergründiger Gewalt.
Die Gefangenen kauern und liegen in ihren Zellen; als „Karteileichen“ im Schieberegal sind sie eher als Schatten ihrer selbst zu ahnen, einer hängt später an den Füßen herab, ein anderer steckt nackt mit einem Sack über dem Kopf im Regalsystem. Sie sind nicht nur verhaftet, sondern abgeheftet und ihrer Individualität beraubt.
Dass Marzelline gleich zu Beginn „Für Elise“ klimpert, ist ein wunderbares Spiel mit der Ikone Beethoven selbst, dessen Oper heute kaum mehr als so revolutionär empfunden wird, wie der Komponist sie verstanden wissen wollte. Umso besser funktioniert diese Aktualisierung. Den Humor, mit dem in dieser Szene gespielt wird, knickt die Barschheit derer, die solch zarte Musik nicht schätzen können und so unterbricht die Tochter des Gefängnisverwalters jäh ihren zaghaften Vortrag.
Ironie verbirgt sich auch in der als Radio-Ansage eingespielten Verlautbarung, dass alle Gefangenen freizulassen seien, denn eingangs ertönt die Wochenschau-Fanfare mit dem Zitat aus dem „Horst-Wessel-Lied“. Hier ist also Mißtrauen angesagt und am Ende verbleibt tatsächlich ungebrochen Beethovens sehr moderne Aussage, dass Leonore durch ihren Mut und ihre Unbeirrbarkeit in einer Männer-Machtwelt die unumstrittene Heldin dieses Stücks ist.
Das ist in der Tat auch Jennifer Holloway in der Titel-Hosenrolle, die mit ihrem wandelbaren Sopran in jeder Lage sicher und kraftvoll durch die schwere Partitur findet und auch im Spiel all das wiedergibt, was in ihr vorgeht. Ihr kommt zugute, dass sie schon von der Statur her beeindruckt, denn diese hochgewachsene Frau ist einfach besser und großartiger als die Männer, auch in deren angeblich typisch männlichen Eigenschaften.
Ihr Gatte Florestan ist Matthew Polenzani und schon sein erstes Wort, „Gott!“, gefolgt von „Welch Dunkel hier! O grauenvolle Stille!“, durchdringt jeden Winkel des Saales. Treffender als im Libretto lässt es sich nicht ausdrücken, denn auf Roccos „Es ist wahr, der Mensch hat so eine Stimme“ entgegnet Leonore: „Jawohl, sie dringt in die Tiefe des Herzens.“ Wie die Sopranistin moduliert er den Text und gibt ihm beeindruckend Leben. Schade, dass sein Auftritt so kurz ist, seine Darbietung des geschundenen Freiheitskämpfers ist absolut überzeugend und in seinen Szenen singt er bis auf Leonora alle an die Wand. Das tut er aber, ohne sich bewusst in den Vordergrund zu spielen, er glänzt einfach durch Weltstar-Niveau. Im übrigen liegt er zuerst nicht in einer Marat-Wanne, wie zuweilen in den Kritiken dargestellt, sondern in einem Zinksarg, denn er ist dem Tode geweiht.
Dazu hat ihn Don Pizarro verdammt, dem Leigh Melrose den ekelerregenden Charakter eines durchgeknallten Schreibtischtäters verleiht. In den Tiefen ist er zuweilen etwas dünn, aber sein hochaktives Spiel gibt der Figur enormen Ausdruck. Man lacht erst über ihn, aber merkt schnell, dass der Mann wirklich gefährlich ist.
Ihm untergeben ist Rocco, der sich später aus der Befehlsempfänger-Rolle emanzipiert, weil ihn sein Gewissen wachruft. Franz-Josef Seligs Bass steigt füllig in die Tiefen einer Vaterseele hinab, in der Pflichtbewusstsein mit der Wahrnehmung von echtem Unrecht kämpfen. Es ist eine Freude, ihm zuzuhören und zu -sehen, wie er die Rolle immer mehr mit Menschlichkeit füllt.
Seine Tochter Marzelline verkörpert Narea Son, die die Rolle mit ihrem glockenhellen Sopran einerseits mädchenhaft-verspielt, andererseits trotzig-selbstbestimmt gestaltet. Sie lässt sich die Butter nicht vom Brot nehmen und am Ende erhört sie eben nicht den Angestellten Jaquino, denn sie hat etwas Besseres verdient.
Letztgenannten gibt der Tenor Daniel Kluge und ja, seine Versuche, Marzelline für sich zu gewinnen, sind jämmerlich, aber er neigt nicht zum Vergewaltiger, wie in manchen Besprechungen beschrieben. Stimmsicher gestaltet er die Rolle von der Witzfigur bis hin zu jemandem, der einem manchmal wirklich leid tut.
Han Kim als Don Fernando ist zwar stimmlich mit seinem warmen Bariton überzeugend, aber als Darsteller für die Rolle ein bisschen zu jung. Da hätte man etwas mit der Maske nachhelfen können.
Wenngleich es zum Finale kleine technische Pannen mit dem Chor der Staatsoper Hamburg gibt, überzeugt er doch in seiner Fülle und Ausdrucksstärke, unterstützt vom harmonisch ausgewogenen Philharmonischen Staatsorchester Hamburg. Der Klangkörper unter seinem Chefdirigenten gibt der ganzen Partitur eine erfreuliche Transluzidität und würdigt die so unterschiedlichen Instrumentierungen und damit Stimmungen, die – nun kommt das Erste zuletzt – bereits in der Ouvertüre angelegt sind. Sowohl das Düster-Gruftige der Einleitung als auch das Energisch-Dramatische erhält hier eine entsprechende Klangsprache. Das Trompetensignal erklingt von hinten aus der geöffneten Foyertüre und erzeugt eine wunderbare Raumwirkung; die 3. Leonoren-Ouvertüre endet in optimistischer Hoffnungsfreude.
Mit großem Applaus für ausnahmslos alle Beteiligten endet auch dieser Opernabend und wer den „Fidelio“ bisher stiefkindlich behandelt hat, sollte sich unbedingt diese Produktion ansehen.
Dr. Andreas Ströbl, 17. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Die nächsten Vorstellungen sind am 24. und 29. November 2023.
Pathys Stehplatz (21) – „Fidelio“an der Wiener Staatsoper: Die Unruhe ist zurück
Ludwig van Beethoven, Fidelio Wiener Staatsoper, 25. Februar 2023
Fidelio, Musik von Ludwig van Beethoven Deutsche Oper Berlin, 25. November 2022 PREMIERE
Ludwig van Beethoven, Fidelio Staatsoper Hamburg, 25. Oktober 2022
Lieber Kollege,
das war eine stimmige und klar erläuternde Rezension. Ich fand die Interpretation von Delnon auch nicht so schlecht, wie sie häufiger beschrieben wurde und kann Ihren Ausführungen zu seiner Inszenierung nur voll zustimmen.
Ihr Ralf Wegner