John Neumeiers choreographische Inspiration lässt auch im 9. Lebensjahrzehnt nicht nach, unverändert gelingen ihm großartige Meisterwerke

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil IX  Staatsoper Hamburg, 19. Januar 2024

Beethoven-Projekt II: Madoka Sugai und Alexandr Trusch (Foto: Kiran West)

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil IX

Die im zweiten Teil des Beethoven-Projekt II genannten Stücks aufgeführte 7. Sinfonie des Bonner Komponisten ist so tanzüberbordend, dass einem schwindelig werden könnte. Ein Jahr später wagte sich Neumeier choreographisch an das wohl heiligste Werk der Musik­geschichte, an Johann Sebastian Bachs h-Moll Messe.


von Dr. Ralf Wegner

2021 widmete sich Neumeier einem weiteren Beethoven-Ballett, genannt Beethoven-Projekt II. Man kann sich Beethoven schlecht getanzt vorstellen, auch nicht die 9. Sinfonie, die Neumeier ursprünglich für eine Choreographie im Sinn hatte. Aber die im zweiten Teil von Beethoven-Projekt II aufgeführte 7. Sinfonie des Bonner Komponisten ist so tanzüberbordend, dass einem schwindelig werden könnte, das ist absolut sehenswert. Ein Jahr später wagte sich Neumeier choreographisch an das wohl heiligste Werk der Musikge­schichte, an Johann Sebastian Bachs h-Moll Messe. Er nannte es Dona Nobis Pacem.
Es handelt sich um ein von tiefer Weltsicht durchzogenes, vom Hamburger Ballett-Ensemble großartig vertanztes Glaubensbekenntnis. Um dieses Meisterwerk abschließend beurteilen zu können, wird es allerdings mehrerer Besuche bedürfen.

Dornröschen, vier begnadete Aurora-Tänzerinnen: Ida Praetorius mit Alexandr Trusch, Madoka Sugai mit Alessandro Frola, Alina Cojocaru mit Alexandr Trusch und Emilie Mazon mit Jacopo Bellussi (Saison 2021/22, Fotos: RW)

Außerdem gab es 2021 mit Dornröschen und Hamlet 21 zwei Neufassungen eines seiner klassischen und eines seiner eher modern aufgefassten Werke. Trotz geringer Veränderungen hat Neumeiers Version vom Dornröschen nichts von der großartigen Wirkung in den Bühnenbildern von Jürgen Rose eingebüßt, vor allem wenn ihm ein begnadet tanzender Prinz wie Alexandr Trusch zur Verfügung steht, der die gute Fee Hélène Bouchet nur auf der hoch über den Kopf erhobenen rechten Hand, ohne mit der linken zu unterstützen durch die Menge trägt [https://youtu.be/lRY3UrctuRk; 2.07 – 2.24] und Neumeier technisch hochvirtuose und darstellerisch ausdrucksstarke Auroras wie Ida Praetorius, Madoka Sugai, Alina Cojocaru und Emilie Mazon einsetzen kann. Dann verlässt am Ende ein hochbeglücktes Publikum das Haus an der Dammtorstraße.

Hamlet 21: Krieg zwischen Dänen und Norwegern (Foto Kiran West)

Auch Neumeiers ursprünglich für Paris geschaffenes Ballett Sylvia wurde wieder aufgeführt, mit einer ausgesprochen sprungstarken Madoka Sugai in der Titelpartie und einem von der Liebe wie die Titanic von einem Eisberg getroffenen Alexandr Trusch als Aminta.

Aleix Martínez in Dona Nobis Pacem, Madoka Sugai als Sylvia und Yaiza Coll als Romola in Nijinski (Fotos: Kiran West)

Inzwischen habe ich mich auch an die das Ballett Hamlet 21 untermalende Musik von Michael Tippet gewöhnt. Sie passt durchaus zu den vielen kriegerischen Handlungen, die dieses Stück dominieren. Alexandr Trusch lieferte eine reife interpretatorische Leistung des vergrübelten Hamlet ab, aber auch Edvin Revazov überzeugte mit seiner Rollengestaltung. Yaiza Coll, die im Laufe der letzten Jahre mit ausdrucksstarken Leistungen auf sich aufmerksam gemacht hatte und vor kurzem noch zur Solistin ernannt wurde, gab ihre Tätigkeit beim Hamburger Ballett leider auf. Ihre Ophelia bleibt aber ebenso unvergessen wie ihr Auftritt als Romola im Schlitten-Pas de deux in Nijinsky.

Bühnenabschied von Hélène Bouchet am 27.12.2021 (Fotos: RW)

Auch galt es Ende 2021 Abschied zu nehmen von einer großen Tänzerin, von Hélène Bou­chet, die in all ihren Rollen überzeugte, sei es als kleine Meerjungfrau, als Julie in Liliom, als Laura Rose in der Glasmenagerie, also in Rollen mit ebenfalls großen Vorbildern, sei es als Tatjana in Crankos Onegin oder in Neumeiers Ballett Tatjana, als Marguerite in der Kamelien­dame, in der kleinen Rolle als Dienerin Désirée von Wertheimstein in Duse oder zuletzt als wunderbar komische Helena im glücklicherweise auf DVD gebrannten Sommernachtstraum.

Ein Sommernachtstraum: Hélène Bouchet als Helena; Jacopo Bellussi und Madoka Sugai als Lysander und Hermia; Madoka Sugai, Hélène Bouchet, Jacopo Bellussi und Karen Azatyan als Demetrius (DVD, Videostills)

Im Juni 2023 wurde Neumeiers Ballett Romeo und Julia nach langjähriger Pause wieder in das Repertoire übernommen, und zwar mit einem deutlich verjüngten Ensemble. Die Rolle des Romeo vertraute Neumeier dem Ensembletänzer (und danach zum Solisten beförderten) Louis Musin an, der sich bereits als Lilioms Sohn Louis bewährt hatte, die Julia wurde von der damals erst 15jährigen Ballettschülerin Azul Ardizzone mit Bravour getanzt. Auch die anderen Rollen waren weitgehend mit jüngeren Tänzerinnen und Tänzern besetzt. Neumeier zeigte mit diesem Besetzungscoup, dass aus dem von ihm zusammen mit der pädagogischen Leiterin Gigi Hyatt und dem Lehrkörper pfleglich begossenen Ballettgarten unverändert hervorragende Nachwuchskräfte emporwachsen und das Hamburger Ballett auch zukünftig ergänzen werden.

Romeo und Julia: Louis Musin und Azul Ardizzone (Fotos: Kiran West)

Verantwortlich sind dafür natürlich neben den Lehrkräften in der Ballettschule wie u.a. die früheren Ersten Solistinnen Elisabeth Loscavio und Anna Urban sowie Konstantin Tselikov auch die das Ensemble trainierenden Ballettmeisterinnen und Ballettmeister, angefangen von dem früheren Ersten Solisten und jetzigem Ersten Ballettmeister Kevin Haigen sowie, genannt in der im offiziellen Mitarbeiterverzeichnis angegebenen Reihenfolge: Eduardo Bertini, Laura Cazzaniga, Leslie McBeth, Niurka Moredo (die immer noch auf der Bühne kleineren Rollen wie Julias Amme ein ausdrucksstarkes Profil gibt), Lloyd Riggins und Ivan Urban. Mit diesen an das Haus gebundenen Koryphäen des Tanzes wird das Hamburger Ballett auch in der Zukunft dem unter John Neumeier verbindlich gewordenen hohen tänzerisch-darstellerischen Anspruch genügen können. Dessen bin ich mir sicher.

Dr. Ralf Wegner, 19. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Die nächste Folge: „Durchgeistigt, schöpferisch und unberührbar: Das Genie John Neumeier schuf neue Welten in Hamburg“ erscheint Dienstag, 23. Januar 2024.

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VIII Staatsoper Hamburg, 16. Januar 2024

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VII Staatsoper Hamburg, 12. Januar 2024

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VI Staatsoper Hamburg, 9. Januar 2024

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil V Staatsoper Hamburg, 5. Januar 2024

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil IV Staatsoper Hamburg, 2. Januar 2024

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil III Staatsoper Hamburg, 22. Dezember 2023

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil II Staatsoper Hamburg, 19. Dezember 2023

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburger Ballett unter John Neumeier, Teil I Staatsoper Hamburg, 15. Dezember 2023

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