Marc Niemann © Yvonne Boesel
Philharmonisches Orchester Bremerhaven
„Orient“
4. Sinfoniekonzert
Programm:
Elena Kats-Chernin: „Momentum“
Fazıl Say: „Hezarfen“ Konzert für Neyflöte und Orchester o. 39
Istanbul 1632 (Allegro moderato)
Galataturm (Moderato pesante e energico)
Der Flug (Moderato pesante e energico)
Algerisches Exil (Andante – Allegro)
Nikolai Rimsky-Korsakow: Scheherazade Sinfonische Suite für Orchester op. 35
Burcu Karadağ Neyflöte
Aykut Köserli Percussion
Philharmonisches Orchester Bremerhaven
Marc Niemann Dirigent
Großes Haus, Stadttheater Bremerhaven, 15./ 16./ 17. Januar 2024
von Gerd Klingeberg
Bremerhaven hat einiges zu bieten, beispielsweise das Deutsche Auswandererhaus, das Klimahaus, ein großes Kreuzfahrt-Terminal. Eher wenig beachtet wird indes die Kultur der Seestadt. Dabei hat etwa das gut aufgestellte Philharmonische Orchester, das in den letzten Jahren unter seinem derzeitigen Chefdirigenten Marc Niemann eine überaus erfreuliche Entwicklung durchlaufen hat, immer wieder interessante, durchaus nicht dem üblichen Mainstream angepasste Konzertprogramme im Angebot.
Und dass das Ensemble statt einer Elphi oder der Bremer Glocke lediglich den akustisch aufgehübschten großen Saal des Stadttheaters zur Verfügung hat, wird durch engagierten Einsatz der Musizierenden gut kompensiert.
Ihr 4. Sinfoniekonzert dieser Spielzeit hatten Orchester und Dirigent Niemann unter das Motto „Orient“ gestellt. Da denkt man doch gleich an Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, an Geheimnisvolles hinter Haremsmauern. Oder an großstädtisches Getümmel, wuselnde Menschenmengen, geschäftige Verkaufsdebatten im Bazar und vielerlei mehr. Einiges davon scheint sich auch in „Momentum“ wiederzufinden, einem kurzen, facettenreichen Werk der derzeitigen Bremerhavener Residenzkomponistin Elena Kats-Chernin, das hier sogar als deutsche Erstaufführung präsentiert wurde.
Inhaltlich setzt es sich zwar mit der Corona-Pandemie auseinander, erweist sich jedoch zunächst als ein rhythmisch und melodisch eingängiges, fast schon poppig spritziges und unterhaltsames Werk mit mitreißender Note.
Halt ein echtes Gute-Laune-Stück. Nach markantem Einschnitt tritt mit bluesigem Sound so etwas wie erschöpfte Ruhe ein, bis schließlich Optimismus und Lebensfreude erneut überwiegen.
Explizit orientalischer geht es zu bei „Hezarfen“, einem 2012 entstandenen Konzert für Neyflöte und Orchester des türkischen Komponisten Fazıl Say. Mit Burcu Karadağ steht dabei eine ausgewiesene Spezialistin für die hierzulande selten zu hörende türkische Flöte zur Verfügung. Der warme, etwas rauchig heiser anmutende Klang des teils leicht kieksend oder angeschmiert angeblasenen Instruments, dazu der markante Sound von Aykut Köselerlis kunstvoll eingesetztem traditionellem Schlag- und Perkussionsinstrumentarium (Kudüm, Bendir u.a.) vermittelt eine eigentümlich fremdartige, mitunter geradezu hypnotisierende Atmosphäre.
Erzählt wird die Geschichte des osmanischen Flugpioniers Hezarfen Ahmet Çelebi, dem es mit selbstgebautem Fluggerät anno 1632 erstmalig gelang, den Bosporus zu überqueren. Und es ist allerschönstes Klangkino, das Solisten und Orchester in intensiver Farbigkeit darbieten. Das Gewusel der gaffenden Menschenmenge wird dabei ebenso bildhaft erstellt wie das ängstliche Zögern dieses türkischen Ikarus-Nachfolgers vor dem entscheidenden Sprung vom Galata-Turm. Mittels Möwentröten werden sogar die Rufe flugbegleitender Vögel imitiert. Ein tolles Spektakel, das, den frühen Tod des Himmelstürmers beklagend, mit einer melancholischen Melodie und einem einzelnen Paukenschlag endet.
Die sinfonische Orchester-Suite „Scheherazade“ von Nikolai Rimski-Korsakow passt optimal in den thematischen Rahmen. Bei der Umsetzung des Märchens aus „Tausendundeiner Nacht“ imponieren die Philharmoniker mit kontrastreichen, vom Tutti grandios erstellten Klangkulissen. Fortissimos können sie exzellent, da legen sie sich voll ins Zeug. Hinsichtlich der gewählten Tempi bleibt Niemann allerdings zumeist recht moderat. Klar, es sind ja Nachtgeschichten, die erzählt werden. Aber etwas weniger Langatmigkeit, dafür mehr Spannung durch variablere Dynamik und Metrik wären durchaus drin gewesen.
Die solistischen Partien werden durchweg blitzsauber intoniert; dennoch wirkt auch hier das teils allzu gemächliche Schwelgen, das ausgiebige Baden in breiten romantischen Harmonien mitunter etwas seicht und ermüdend. Der grandiose, mit Schwung und ausgeprägter Verve angegangene Finalsatz reißt indes alles raus. Da drängt das Orchester kraftvoll voran, da darf es endlich gehörig krachen, wenn Sindbads Schiff in wütendem Sturm zu donnerndem Blechbläsersound an einer Klippe zerschellt. Ein Finale nach Maß. Da haben die Ausführenden den lang anhaltenden, sehr begeisterten Schlussbeifall des Auditoriums voll verdient.
Gerd Klingeberg, 17. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at