„Viele deutsche Komponisten schrieben Polonaisen"

Interview von Jolanta Łada-Zielke mit der Direktorin Romana Agnel  klassik-begeistert.de, 6. März 2024

Polonaise-Prozession auf dem Krakauer Marktplatz © Ilja van de Pavert

Die Polonaise, ein traditioneller polnischer Tanz, steht seit dem 5. Dezember 2023 auf der Repräsentativen Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit der UNESCO. Die Vertreterin der Verwahrer dieses Eintrags ist die Direktorin des Hofballetts Cracovia Danza, Romana Agnel.

Jolanta Łada-Zielke spricht mit ihr über die Rolle der Polonaise als tänzerischer und musikalischer Botschafter Polens im Ausland.

klassik-begeistert: Kann man feststellen, wann die Polonaise an den europäischen Höfen erschienen ist?

Romana Agnel: Es ist schwer zu sagen, wann genau sie ihren Weg in das Repertoire der westlichen Musik fand.  Polnische musikalische Themen waren praktisch seit dem 16. Jahrhundert in Mode, als Polen durch verschiedene dynastische Verbindungen an die europäischen Höfe gelangte. Diese Mode setzte sich bereits während der Herrschaft von König Heinrich von Valois (1551-1589) und den nachfolgenden Herrschern Polens durch.

Damals kamen ausländische Künstler nach Polen, und unsere eigenen gingen in andere Länder. Die polnische Musik war in Europa bereits im 16. Jahrhundert bekannt, wie das sogenannte „Ballett des polonais“ beweist, das 1573 in Paris aufgeführt wurde. Die damals komponierten Melodien bezeichnete man als „polnischer Tanz“. Darunter verbargen sich sehr unterschiedliche Rhythmen, die mit den ersten Formen der Polonaise als langsamer Tanz im dreifachen Metrum verbunden waren. Es gab jedoch auch schnellere Tänze im Dreiertakt, die bis heute als Prototyp des Mazur gelten.

klassik-begeistert: Welche damaligen berühmten Komponisten schufen Melodien für polnische Tänze?

Romana Agnel: Dazu gehörte der Franzose Gallot d’Angers. Es gab aber ebenfalls viele deutsche Komponisten. Sie schrieben in Tabulaturen die Noten der Tänze ein, die sie „Polnischer Tanz“ oder „Nachttanz“ nannten, weil man die Polonaise oft mit einem Fackeltanz assoziierte. In den Werken von Valentin Hausmann (1560-1611) tauchen bereits die Tänze auf, die sich auf die polnische Tradition beziehen. Im 17. Jahrhundert war das Thema der polnischen Tänze für jeden Komponisten obligatorisch. Sie haben jedoch keine streng definierte Form; je nach Herkunftsort nannte man sie allgemein „polnische Tänze“. Dies waren „air polonasie“ oder „danse polonaise“ in Frankreich, „polnischer Tanz“ in Deutschland oder „alla polacca“ in Italien.

Diese Bearbeitungen tauchen in verschiedenen Musiksammlungen, entweder anonym oder unter einem Komponistennamen auf. Sie zeigen einen bestimmten kompositorischen Manierismus, der sich darin äußert, dass alle orientalischen, türkischen und einfachen volkstümlichen Themen im so genannten polnischen Stil geschrieben sind. In dieser Zeit entwickelte sich auch die langsame, feierliche Form von dem Tanz „Chodzony” (Gehende), der oft als ursprüngliche Form der Polonaise gilt.

Titelblatt von Valentin Hausmanns Abhandlung „Von polnischen und andern Tänzen“, öffentlicher Bereich

klassik-begeistert: Liegt die Blütezeit der Polonaise-Kreativität im nächsten Jahrhundert?

Romana Agnel: Es gibt wohl keinen Komponisten im 18. Jahrhundert, der nicht einen polnischen Tanz in seinen Werken hatte, angefangen bei Johann Sebastian Bach, der eine Polonaise in seine Orchestersuiten aufnahm. Das Polonaise-Thema taucht auch in seinen „Goldberg-Variationen“ und in einigen Kantaten auf. Dies ist bereits eine sehr deutliche Anlehnung an das Tanzthema, das man als „Polonaise“ bezeichnet. Damit hat sich bereits ein spezifischer Name für diesen Tanz herausgebildet, der aus dem Französischen übernommen wurde und in Polen sowohl den Tanz als auch die musikalische Form bezeichnet. Die Praxis der Polonaise weckt das Interesse von Komponisten aus anderen Ländern. Der barocke Tanzmeister Gottfried Taubert (1670-1746) veröffentlicht 1719 in Leipzig seine Abhandlung über die Tänze, in der er über die Polonaise schreibt. Daher wissen wir, dass die Tanzmeister die Polonaise schon damals in ihren Schulen unterrichteten. Unser Tanz war in deutschen Kreisen besonders in Mode.

Neben Johann Sebastian Bach, der mit dem Dresdner Hof verbunden war, gibt es weitere Komponisten, die dieses Thema nicht nur im Zusammenhang mit dem Tanz, sondern auch als musikalische Form behandeln. Dazu gehört Georg Philip Telemann, der eine ganze Reihe von Werken unter dem Namen „alla polacca“ komponiert. Diese haben nicht unbedingt etwas mit seiner Faszination für die polnische Musik oder den polnischen Stil zu tun. Er behandelt sie als Formen eines eleganteren, höfischen Charakters. Die Polonaise war zu dieser Zeit in Europa bereits sehr präsent in der zeremoniellen und höfischen Etikette. Man tanzte sie bei Hofzeremonien in Paris, London und Dresden sowie an vielen Fürstenhöfen in Italien und bei den Habsburgern. Daraus ergab sich das Bedürfnis, weitere Stücke dieser Art zu komponieren. Die für den Tanz bestimmten Formen sind einfacher, eher utilitaristischer Natur, haben aber dennoch einen sehr festlichen, eleganten Charakter.

klassik-begeistert: Gab es darunter besonders interessante Stücke?

Romana Agnel: Für mich ist das Polonaise Contredanse, die aus dem deutschen Raum stammt. Der hiesige Tanzmeister Adam Wolfgang Winterschmidt (1733-1796) beschrieb sie in seinem Traktat, wobei er das Feuillet Bauchamps-System, also die Zeichen nach französischem Vorbild, verwendete. Dies zeigt, dass man die Polonaise zu dieser Zeit an den Höfen recht häufig tanzte. Sie war nicht nur ein Tanz zur Eröffnung eines Festes oder einer Präsentation, wie es heute der Fall ist, wenn ein Paar nach dem anderen in einer Prozession einhergeht. Sie gehörte zu den anderen Gesellschaftstänzen, die damals in Mode waren, wie zum Beispiel die Contredanse. Die Figuren, die Winterschmidt in seiner Abhandlung aufgezeichnete, wirken manchmal sehr überraschend, ziemlich lebhaft.

klassik-begeistert: Welche Figur ist die überraschendste?

Romana Agnel: Diejenige, bei der sich die Tänzerinnen und Tänzer in Reihen gegenüberstehen und die Chassé-Schritte ausführen, die recht lebhaft, ich würde sagen, nicht sehr „Polonaise-artig“ sind. Wenn viele Paare diese Figur gleichzeitig machen, scheint sie sehr dynamisch zu sein und eher einer Contredanse als einer Polonaise zu ähneln.

klassik-begeistert: Tanzte man die Polonaise auch nach der Teilung Polens 1795?

Romana Agnel: Die Polonaise als musikalische Gattung überlebte die Zeit der Teilung dank der Musik. Ihre Gebrauchsform ging mit dem Verlust der Unabhängigkeit Polens verloren, weil der polnische Adel, der die Polonaise täglich tanzte, zu existieren aufhörte. Im Gegensatz dazu blieb die Polonaise in musikalischen Kompositionen erhalten und nahm einen brillanten Charakter an. Sie wurde zu einem mehrteiligen Stück mit virtuosen Elementen. Das größte Verdienst an der Verbreitung dieser Form hatten polnische Komponisten, darunter Frédéric Chopin, Henryk Wieniawski, Karol Kurpiński und Karol Lipski. Später griffen es Josef Haydn, Carl Maria von Weber, Gioachino Rossini und Ferenc Liszt auf.

Jeder Komponist hatte den Ehrgeiz, seine eigene Polonaise zu komponieren, die Elemente der Würde, der Feierlichkeit, der Erhabenheit und des Zeremoniells enthielt. Diese Entwicklung ging jedoch in sehr unterschiedliche Richtungen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine Polonaise, die ein Anfangsthema enthielt, gefolgt von einem Trio und einer Wiederholung des Themas. Man hielt das Trio für eine freie, eigenständige Komposition, die mit dem Menuett verwandt sei. Diese Form gab den Komponisten bereits die Möglichkeit, sich kreativ auszudrücken und ihre musikalische Fantasie zu entfalten, weil einige dieser Stücke jeweils sieben bis acht Minuten dauern. Sie waren Teil einer Suite und man nannte sie eindeutig „Polonaise”.

klassik-begeistert: Während der Teilung wurde die Polonaise „Abschied von der Heimat“ von Michal Kleofas Ogiński zum beliebtesten Stück. Es ist ein sehr emotionales Werk, das die Sehnsucht nach der verlorenen Freiheit zum Ausdruck bringt.

Romana Agnel: Dies ist eine weitere Etappe in der Polonaise-Geschichte, die man im Laufe der Zeit mit neuen Inhalten anreicherte. Sie ist nicht mehr das Markenzeichen des Adels und ein zeremonieller Tanz, der die Gäste zu einem Fest einlädt, sondern wird zum Träger sozialer, politischer und sogar persönlicher Inhalte. Dank dieser Verfahren hält dieser Tanz Einzug in die Oper. In den Werken von Stanisław Moniuszko vermittelt er sehr feierliche Inhalte, in Verbindung mit Arien und Ensembleszenen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tanzte man sie in den polnischen Salons wieder. Damals wurde dieser Tanz zu einer Art Manifestation unseres Patriotismus.

Romana Agnel © Innee-Singh-New-Delhi

klassik-begeistert: Peter Tschaikowsky verwendete eine Polonaise in seiner Oper „Eugen Onegin“, und Moniuszkos berühmteste Polonaise steht in seiner Oper „Die Gräfin“.  Andererseits schrieb Hans Pfitzner während der Nazi-Besatzung ein Stück „Krakauer Begrüßung“, mit einem Polonaise-Einsatz, zu Ehren des Generalgouverneurs und Kriegsverbrecher Hans Frank. Frank wollte uns diesen Schatz polnischer Kultur wegnehmen und versuchte angebliche spanische Ursprünge (wie Fandango) in der Polonaise zu finden. Aber zum Glück ist ihm das nicht gelungen.

Romana Agnel: Das stimmt. Uns ist hingegen gelungen, die Polonaise als polnischen, traditionellen Tanz in die Repräsentative Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit der UNESCO aufnehmen zu lassen. Es war uns sehr wichtig, dass diese Initiative von Polen ausgeht.

Du erwähnst Tschaikowsky, und wir wissen, dass man die Polonaise am Zaren Hof in St. Petersburg tanzte, und sie dort als Tanz sehr hochschätzte. Man könnte also sagen, dass verschiedene Länder und Kreise sie übernahmen, zum Beispiel Deutschland, wo es viele Polonaise-Stücke gab.

Wir wollten betonen, dass es ein polnischer Beitrag ist. Jeder soll es wissen, dass die Polonaise ursprünglich ein polnischer Tanz war, auch wenn sie später an den Höfen und in den Salons Europas herrschte. Sie ist mit unserer polnischen Tradition verbunden, natürlich mit der adeligen, höfischen, aber auch der bäuerlichen, obwohl es keine Möglichkeit gab, sie schriftlich zu verewigen. Man tanzte jedoch die völkische Form der Polonaise – „Chodzony“ – bereits im 19. Jahrhundert in verschiedenen Regionen unseres Landes. Es gab auch eine Krakauer Polonaise, deren Tradition wir in unserer Stadt noch heute pflegen.

klassik-begeistert: Welche Polonaise-Events werden demnächst  in Krakau stattfinden?

Romana Agnel: Wir bereiten eine Veranstaltungsreihe mit dem Titel „Vier Jahreszeiten der Polonaise“ vor, bei der wir für jede Jahreszeit eine Polonaise präsentieren werden. Um den 3. Mai herum wird es die „Frühlingpolonaise“ sein, und für die nächste Ausgabe des Festivals der Hof-Tänze planen wir eine Sommerversion davon. Wie üblich, werden wir einen großen Umzug auf dem Marktplatz veranstalten, zu dem wir die Einwohner und Touristen einladen.

Die Herbstpolonaise wird um den 11. November herum anlässlich des Unabhängigkeitstages Polens vor dem Nationalmuseum stattfinden. Die Karneval-Winterpolonaise werden wir am Ende des Jahres mit Masken tanzen. Wir führen ebenfalls ein Projekt „Polonaise durch Theater“ durch, bei dem wir die getanzte Polonaise mit Gedichten und Dramen aus unserer Literatur kombinieren. Dies bereiten wir mit Krakauer Schauspielern für die Nacht der Theater im Juli 2024. Das größte Ereignis wird der Guinness-Rekord für das Tanzen der Polonaise für tausend Paare sein. Für uns ist das eine echte Herausforderung, weil wir die Jury hierherbringen und eine solche Anzahl von Tänzern organisieren müssen.

Emilie Zumsteeg © Wikipedia

klassik-begeistert: Und hier ist meine neueste Entdeckung: Die deutsche Komponistin Emilie Zumsteeg (1794-1857) schrieb das „Sans-façon-Lied“ auf einen Text von Friedrich Haug. Die Autorin selbst bezeichnete es als eine „Polonaise mit Laune“.  Im Text erklärt man nonchalant, dass man immer dasselbe tut wie alle anderen: „Wenn ihr singt, ich singe; wenn ihr tanzt, ich tanze…”

Romana Agnel: Ich denke, Jola, dass uns die Polonaise mehr als einmal angenehm überraschen wird. Wir werden Beispiele dafür bei verschiedenen Komponisten finden, weil das Thema sehr breit gefächert ist. Wir können auch Stücke aus dem frühen 20. Jahrhundert und von heute erwähnen.

Heutzutage versuchen sich viele junge Komponisten mit dieser Form auseinanderzusetzen, zumal man kürzlich einen Wettbewerb für Polonaise ausgeschrieben hat. Ich hoffe daher, dass der Beitrag der Polonaise auf die UNESCO-Liste verschiedene künstlerische Bemühungen auslösen und eine Vielzahl von Künstlern inspirieren wird. Es werden neue Versionen der Polonaise entstehen, und wir werden sie auch bei früheren Künstlern wiederfinden. Es gibt Beweise dafür, dass dieser Tanz überall präsent war, also lohnt es sich, über ihn zu sprechen.

klassik-begeistert: Vielen Dank für das Gespräch.

Jolanta Łada-Zielke, 6. März 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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