CD-Rezensionen:
Arvo Pärt
Tractus
CD erschienen 2023 bei ECM Records GmbH, München (ECM New Series 2800/485 9166)
von Dr. Andreas Ströbl
Ein begnadeter Vermittler ist Arvo Pärt. Seine Musik schlägt Bögen von der Vergangenheit in die Jetztzeit, sie vermittelt durch ihre transreligiöse Spiritualität zwischen Kulturen und Konfessionen, öffnet Türen zwischen innen und außen. Dieser Wille zu Verbindungen auf mehreren Ebenen manifestiert sich programmatisch schon im Titel der neuen CD des estnischen Komponisten, „Tractus“. Damit ist eine der ältesten Formen des kirchlichen Gesangs gemeint, nämlich ein reiner Psalmengesang ohne Refrain. Pärt rekurriert hier auf spätantike Gesänge, die eine tiefe Ernsthaftigkeit charakterisierte, weswegen sie in der Fastenzeit anstelle des „Halleluja“ gesungen wurden.
Das inhaltliche Aufgreifen dieser frommen Thematik und das Zitieren geradezu archaischer Formen und Inhalte in einer Zeit, in der Egomanie, Materialismus und Oberflächlichkeit jegliches Bekenntnis zur stillen Einkehr zu überdröhnen scheinen, dürfte die CD nicht nur für religiöse Menschen gerade in den vergangenen Wochen der Fastenzeit interessant gemacht haben. Pärt ist ja kein Missionar und daher ist seine Musik auch für diejenigen ein Labsal, die einfach nur ihre unaufgeregte Schönheit genießen wollen und die Worte als Wohlklang hören, ohne sie vom religiösen Inhalt her begreifen zu müssen.
Allerdings lässt sich Pärts Werk in der Tiefe erst ganz erfassen, wenn man das Wortwörtliche darin entsprechend wahrnimmt. „Der Zweck der Musik ist es, das Wort zu vermitteln“, heißt es im erläuternden Text von Kai Kutman im Beiheft, oder, wie Pärt es selbst ausgedrückt hat, „Die Worte schreiben meine Musik.“
Dieses Heftchen ist ansprechend gestaltet, vermittelt mit Photos die Stimmung bei der Einspielung, und lädt ein, neben dem Einführungstext von Wolfgang Sander ebendiese vertonten Worte der entsprechenden Stücke zu lesen. Es gibt auf der CD tatsächlich nur drei reine Instrumentalstücke, von denen eines interessanterweise „These words…“ betitelt ist.
Unter der Leitung von Tönu Kaljuste spielt das Tallinn Chamber Orchestra mit großer Empfindsamkeit diese anspruchsvolle Musik, der Estonian Philharmonic Chamber Choir intoniert mit ebensoviel Exaktheit wie Sensibilität die vier Werke für Chor und Orchester.
„Littlemore Tractus“ führt die Hörer in Pärts spirituelle Klangwelt ein, das Stück ist sakral-weihevoll und besticht auch durch zarte Harfenklänge. Für Pärt-Puristen mag dies Stück gerade durch den kantenlosen Chorgesang allerdings etwas gefällig, ja massentauglich klingen. „Greater Antiphons“ für Streichorchester hingegen ist fast durchweg reiner Pärt, mit den typischen Abbrüchen, dem Innehalten, Verhallen und einem Fließen, das tatsächlich in den stillen Pausen im Inneren der Hörer entsteht und eine konzentrierte Spannung erzeugt.
Pärt ist am stärksten da, wo er die zartesten Feinheiten zum sanften Klingen bringt. Das Spiel mit Minimalismen zieht soghaft in eine kontemplative Ruhe, während die hymnischen Finalstellen in ihrer ungebrochenen Dur-Einfachheit etwas an der Kommerzialität entlangstreifen.
„Cantique des degrés“ gemahnt etwas an die hoffnungsfrohe Sinnlichkeit des Fauré-Requiems, dagegen huldigt „Sequentia“ wiederum der Reduktion und einem andächtigen In-sich-gekehrt-Sein.
Maria Listra ist die Sopranistin in „L’abbé Agathon“ und auch hier beeindrucken am meisten die Piano-Höhen am Schluss der geistlichen Erzählung von einem Eremiten aus dem 4. Jahrhundert. „These words“ thematisiert Hamlets Seinsfrage und den inneren Kampf mit Schuld und Sünde, beeindruckend durch kraftvolle Perkussion umgesetzt.
Wer von „Veni creator“ einen machtvollen Hymnus erwartet, wird aufs Reizvollste durch eine feinnervige Bescheidung und Ruhe überrascht; das ruhige „Vater unser“ mit Marrit Gerretz-Traksmann am Klavier beschließt dieses vielseitige Kompendium in aufrichtiger, fast naiver Frömmigkeit.
Nun ist die Fastenzeit vorbei und wer auch darüber hinaus anstatt praller Sinnenfreude immer wieder einmal einen musikalischen Rückzug in eine konzentrierte Innigkeit sucht, dem sei diese CD in jedem Falle empfohlen.
Dr. Andreas Ströbl, 29. März 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Buchrezension: Graphic Novel „Zwischen zwei Tönen“ über Arvo Pärt, Klassik-begeistert.de