Das Janáček-Theater in Brünn. Quelle: Wikipedia
Ich kenne keine Oper, Bergs “Wozzeck“ vielleicht ausgenommen, in der das Leid der geschundenen Kreatur so unmittelbar geschildert wird wie in Leoš Janáčeks “Aus einem Totenhaus”. In Kombination mit dem Meisterwerk der “Glagolitischen Messe” entsteht ein außergewöhnliches, verstörendes Musik- und Theatererlebnis. Wer sich der Herausforderung stellen will, kann es in Brünn am 11. Mai noch einmal hören und sehen.
Leoš Janáček
Z mrtvého domu/Aus einem Totenhaus
Oper in drei Akten
Libretto nach F. M. Dostojewski vom Komponisten
Glagolská Mše/Glagolitische Messe
Szenische Fassung
Regie: Jiří Heřman
Bühne: Tomáš Rusín
Kostüme: Zuzana Štefunková-Rusínová
Licht: Jiří Heřman
Chor und Orchester des Janáčkovo divadlo, Brünn
Chorleiter: Pavel Koňárek
Dirigent: Robert Kružík
Janáčkovo divadlo, Brünn, 27. April 2024
von Dr. Rudi Frühwirth
Der bedeutende tschechische Komponist Leoš Janáček stand sein Leben lang auf der Seite der Ausgestoßenen und Entrechteten. Die erschütternde Oper “Aus einem Totenhaus” war sein letztes Werk und gibt davon beredtes Zeugnis. Er starb, bevor er den dritten, letzten Akt noch einmal durchsehen konnte. Nach seinem Tod wurde die Partitur von zweien seiner Schüler bearbeitet, der schockierende Inhalt etwas abgemildert.
Die 2022 in Brünn entwickelte Version, in der die Oper mit der Glagolitischen Messe gekoppelt wird, greift auf die Originalfassung zurück, die Janáček hinterlassen hat. Der beschönigende Schluss der Bearbeitung ist wieder getilgt, die Insassen des Totenhauses werden am Ende wieder zur Zwangsarbeit getrieben.
Die Vorlage des Librettos ist Dostojewskis Buch “Aufzeichnungen aus einem Totenhaus”, das die Erfahrungen des großen russischen Autors in der Verbannung in Sibirien schildert. Janáček hat den Text Dostojewskis gestrafft und dramaturgisch den Erfordernissen der Bühne angepasst. Die Oper ist eine erschütternde, aufwühlende Beschreibung der Grausamkeit, deren Menschen gegen andere Menschen fähig sind. Das gilt für die Lagerwärter ebenso wie für die meisten Gefangenen, die ja bis auf einen durchwegs Räuber und Mörder sind. Die Ausnahme ist der politische Gefangene Gorjantschikow, den der Lagerkommandant besonders barbarisch misshandeln lässt.
Die zentrale Szene der Oper ist ein kleines Fest am Abend eines kirchlichen Feiertags. In ihr können die Gefangenen kurz die bedrückende Gegenwart vergessen und ein übermütiges Theaterstück aufführen. Hier ist die Musik munter und ausschweifend, nicht ohne bedrohliche Untertöne.
Das Fest wird umrahmt von den Erzählungen der Gefangenen, die ihr Schicksal beschreiben und beklagen. Die Musik, die Janáček dazu komponiert hat, ist hoch expressiv und folgt wie in seinen anderen Opern konsequent der tschechischen Sprachmelodie. Die hoffnungslose Lage der Gefangenen wird musikalisch in bestürzender Weise untermalt und ausgedrückt. Dirigent und Orchester sind mit Janáčeks Werk natürlich bestens vertraut und bringen die Aussage der Musik überzeugend zur Geltung.
Die Protagonisten sind allesamt hervorragende Sänger und Schauspieler und bilden gemeinsam mit dem Chor ein großartiges Ensemble. Sie werden von der Regie auch physisch extrem gefordert. Ihre Verzweiflung und ihr Hass entladen sich immer wieder in kurzen, realistisch ausgespielten Gewaltausbrüchen, die von den Wärtern brutal unterdrückt werden.
Die optische Umsetzung der Handlung ist grandios. Das zentrale Element des Bühnenbilds sind zahllose Ketten, die vom Schnürboden herunterhängen. Zu Beginn des ersten Aktes wird an zweien von ihnen der Tänzer, der einen verletzten Adler verkörpert, heruntergelassen. An die anderen sind die Gefangenen gefesselt, während die Wärter ihrem Sadismus freien Lauf lassen. Im weiteren Verlauf werden die Ketten hochgezogen und Chor und Solisten können sich freier bewegen.
Die Kostüme sind in einem klaren Farbschema gehalten: blutrote Uniformen für die Wärter, schwarze Kleidung für die Gefangenen vor der Pause, weiße nach der Pause und für die anschließende Messe. Die beiden Paukisten des Orchesters stehen mit ihren Instrumenten links und rechts des Orchestergrabens auf Höhe der Bühne und tragen ebenfalls die roten Uniformen, so als würden sie die Musiker im Graben bewachen.
Wenn der Abend nach der Oper zu Ende gegangen wäre, hätte ich das Theater zutiefst deprimiert verlassen. Es war eine geniale Idee, nach der Hölle des Lagers mit der Glagolitischen Messe die Möglichkeit, ja die Hoffnung auf Erlösung durch den Glauben musikalisch und szenisch darzustellen. Wir alle wurden von einer Mutter geboren, und niemand verdient die ewige Verdammnis, das ist die zutiefst humanistische Botschaft, die Janáček in der Oper wie in der Messe musikalisch zum Ausdruck brachte.
Mit den ersten Tönen der Trompetenfanfare, die die Messe einleitet, kommt der Frauenchor auf die Bühne. Zu den Solisten der Oper gesellen sich Sängerinnen, auch sie stimmlich hervorragend. Die szenische und ästhetische Gestaltung der Messe ist ebenso beeindruckend wie die der Oper. Das wichtigste Requisit ist ein großes weißes Tuch, das in verschiedenen Formen auf der Bühne drapiert wird. Der Tänzer, der in der Oper den Adler symbolisiert hat, verkörpert in der Messe Christus, den Erlöser. Ein besonders eindrücklicher Augenblick ist den Darstellungen der “Pietà” in der europäischen Kunst nachempfunden.
Die Musik der Messe ist deutlich heller und optimistischer als die der Oper, besonders im Slava/Gloria und im Svet/Sanktus. Nach einem berauschenden Orgelsolo wird zum Abschluss die Einleitung wiederholt, und der Abend endet mit hoffnungsvollen, ja triumphierenden Tönen, die den vorhergegangenen Schrecken freilich nicht ganz auslöschen können.
Ich kenne keine Oper, Bergs “Wozzeck“ vielleicht ausgenommen, in der das Leid der geschundenen Kreatur so unmittelbar geschildert wird wie in Leoš Janáčeks “Aus einem Totenhaus”. In Kombination mit dem Meisterwerk der “Glagolitischen Messe” entsteht ein außergewöhnliches, verstörendes Musik- und Theatererlebnis. Wer sich der Herausforderung stellen will, kann es in Brünn am 11. Mai noch einmal hören und sehen.
Dr. Rudi Frühwirth, 1. Mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Leoš Janáček
Z mrtvého domu/Aus einem Totenhaus
Oper in drei Akten
Libretto nach F. M. Dostojewski vom Komponisten
Alexandr Petrowitsch Gorjantschikow: Roman Hoza
Luka (Filka Morozov): Gianluca Zampieri
Skuratow: Peter Berger
Schischkow: Pavol Kubáň
Placmajor: Jan Šťáva
Aljeja: Jarmila Balážová
Adler: Michal Heriban
Glagolská Mše/Glagolitische Messe
Szenische Fassung
Sopran: Kateřina Kněžíková
Alt: Jarmila Balážová, Jana Hrochová
Tenor: Peter Berger, Eduard Martynyuk
Bass: Jan Šťáva, Josef Škarka
Lieber Rudi, als bohemophiler Kunstinteressierter freut mich dein wunderbarer Kommentar besonders.
Ich möchte ein paar Worte zu der Glagolská Msĕ ergänzen:
„Kam bei dieser Hukvalder Feier der Regen höchst ungelegen, so hatte er um so segensreichere Wirkungen nicht ganz einen Monat später (am 2. August und den folgenden Tagen) in Luhačovice: einem ebensolchen Regen verdanken wir, wenn wir Janáčeks Versicherung Glauben schenken wollen, eines seiner großartigsten Werke – die Glagolitische Messe. (Glagolitisch – eigentlich die Bezeichnung für eine der beiden Schriftgattungen, in denen die altbulgarischen – kirchenslawischen Schriftdenkmäler niedergeschrieben sind – bedeutet hier soviel wie kirchenslawisch, altslawisch. Auf Textworte in dieser altehrwürdigen Sprache ist Janáčeks Werk geschrieben).
Schreibt doch der Meister über die Entstehung seiner Messe: „Es gießt, es gießt der Luhačovicer Regen. Aus dem Fenster blickt man auf den düster dreinschauenden Berg Komoň. Die Wolken … das leise Motiv eines verzweifelnden Gemüzs aus den Worten „Gospodi pomiluj“ (Herr, erbarme dich, Kyrie eleison). Nichts weiter als in Freude der Aufschrei „Slava, slava“ (Heil, Gloria).
Nichts weiter als der herzzerreißende Schmerz in dem Motiv „Rozpet že za my, mučen i pogreben jest“ (Für uns gekreuzigt, gemartert und begraben).
Und aller Begeisterung und auf – und abwogender Gefühlsbewegung Schluß in den Motiven Amen, amen!
Lieber Rudi, diese Textstellen habe ich dem Buch „Leoš Janáček – Leben und Werk“ von Jaroslav Vogel entnommen. Interesse? Am 6. 6. können wir darin blättern.
Peter de Bruin