Amatis Piano Trio © Marco Borggreve
„Humanity in War“
Thomas Quasthoff, Rezitation
Amatis Trio:
Lea Hausmann, Violine
Samuel Shepherd, Violoncello
Mengjie Han, Klavier
Dresdner Musikfestspiele, Palais im Großen Garten, 31. Mai 2024
von Pauline Lehmann
Mit Stift und Papier schufen sich die Soldaten im Ersten Weltkrieg ein wenig Privatsphäre inmitten des industrialisierten Krieges, ganz gleich unter welcher Flagge sie kämpften. Die Feldpostbriefe waren Lebenszeichen der Männer, die als Ehemänner, Geliebte, Väter, Söhne und Brüder an die Daheimgebliebenen schrieben.
Allein im Deutschen Reich wurden in den vier Kriegsjahren täglich im Durchschnitt 6,8 Millionen Sendungen von der Front in die Heimat verschickt. Die Soldaten mussten ihre Briefe unverschlossen lassen, waren Postsperren und Zensur ausgesetzt. Ihren Tagebüchern vertrauten die Männer, die freiwillig oder unfreiwillig an der Front kämpften, ihre Erlebnisse, Erwartungen, Hoffnungen und Enttäuschungen an.
In bewegender Intensität widmen Thomas Quasthoff und das Amatis Trio diesen bedeutenden Zeitdokumenten einen Konzertabend und berühren mit traurigen, aber auch heiteren Episoden aus der ‚Urkatastrophe‘ des 20. Jahrhunderts. Das Palais im Großen Garten, das im Siebenjährigen Krieg und während der Bombenangriffe vom 13. und 14. Februar 1945 zerstört wurde und diese Geschichte sichtbar lässt, bietet dafür ein eindrucksvolles Ambiente.
Zwischen den Auszügen aus Briefen und Tagebüchern erklingen Werke von Franz Schubert, Robert Schumann, Fritz Kreisler, Anton Webern, Rebecca Clarke, Erich Wolfgang Korngold und Dmitri Schostakowitsch, die sich wunderbar in die erzählerische Linie einfügen. Auch in Komponistenkreisen löste der Krieg anfänglich eine Euphorie aus. Anton Webern, der am 15. September 1945 in Mittersill bei Salzburg von einem amerikanischen Besatzungssoldaten erschossen wurde, schrieb an Alban Berg: „Ich muss in den Krieg. Ich muss. Ich halte es nicht mehr aus.“
Die Tagebucheinträge des Gefreiten Charles Blackmore vom Januar 1917 erzählen vom Stolz, ein eigenes Gewehr zu besitzen, und vom Optimismus, die Westfront zu erreichen. Bereits drei Tage später ist der minderjährige Freiwillige „schockiert und starr vor Entsetzen“. Im Graben sind „Ungeziefer, Ratten und Läuse“, der Krieg offenbart sich als „Blutbad“. Am 29. Januar 1917 befand sich der Soldat verwundet in einem Militärkrankenhaus und berichtet von einem Gasangriff, während er sich in einem deutschen Schützengraben aufhielt. Die „Schritte“, die sich ihm dort näherten, gehen fließend in das Repetieren des Klaviers im zweiten Satz des Klaviertrios Nr. 2 D 929 von Franz Schubert über.
Beeindruckend ist die Eloquenz, in der die Texte verfasst sind. In der brillanten Erzählweise von Thomas Quasthoff werden die Erlebnisse der Einzelnen in besonderer Weise nahbar und durchlebbar, erscheinen die „Hurra“-Rufe und das preußische Gloria, welche anlässlich des russischen Weihnachtsfestes am 7. Januar 1918 erklingen, plastisch. Das Amatis Trio zeichnet sich durch seine sensible, überaus wandelbare musikalische Sprache und bedingungslose Hingabe aus. Anton Weberns kleines Stück wird in eine expressive Superlative gesteigert, Robert Schumanns „Abendlied“ erklingt hingegen lyrisch verträumt.
Reginald John Armes beschreibt, wie er die weihnachtliche Waffenruhe, bei der die Kämpfe mit den Deutschen bis zur Mitternacht des ersten Feiertages ruhen sollten, kaum fassen kann. Der Hauptmann berichtet seiner Frau, wie die deutschen Schützengräben mit Lichtern geschmückt waren, man sang Volkslieder, ja sogar Schumanns Ballade „Die Grenadiere“, verschenkte Tabak und „verbrüderte“ sich. Nachdenklich humoristisch liest Thomas Quasthoff den Brief, den Frau S. an den Leutnant ihres Mannes schreibt, um ihre sexuellen Bedürfnisse gegenüber ihrem Ehemann geltend zu machen.
Von aktueller Brisanz sind schließlich die solidarischen Worte deutscher und österreichischer Frauenrechtlerinnen, die ein „starkes internationales Völkerrecht“ einfordern und den Krieg als lebenszerstörend verurteilen.
Thomas Quasthoff schließt den Abend mit den gewichtigen Worten des britischen Premierministers Arthur Neville Chamberlain aus dem Jahr 1938: „Im Krieg gibt es keine Gewinner, sondern alle sind Verlierer, ganz gleich, welche Seite sich zum Sieger erklären mag.“
Pauline Lehmann, 4. Juni 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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