Den besten „Ring“ gibt es derzeit in Erl

Richard Wagner, Der Ring des Nibelungen  Tiroler Festspiele Erl, 5. Juli bis 28. Juli 2024

Erl, Walküre © Xiomara Bender

Wie so oft liegt die große Kunst in der Schlichtheit der Szene. All den Aufwand, den so viele Regisseure betreiben, braucht es nicht. Oftmals reicht es einfach, die Geschichte spannend zu erzählen, ohne den Vorsatz, das Rad neu erfinden zu müssen, mit allem, was dazu gehört. Brigitte Fassbaender ist das – das lässt sich zur Halbzeit schon sagen- gelungen.

Halbzeit nach dem zweiten Zyklus in Regie von Brigitte Fassbaender

Richard Wagner
Der Ring des Nibelungen

Erik Nielsen, Dirigent
Orchester der Tiroler Festspiele Erl

Brigitte Fassbaender, Inszenierung

Tiroler Festspiele Erl, 23. Juli und 24. Juli 2024

von Kirsten Liese

Also, es geht doch! Soll noch einer behaupten, Wagners Ring sei auserzählt oder bedürfe radikaler Eingriffe und Zutaten wie in Dmitri Tcherniakovs  Berliner Inszenierung an der Lindenoper oder Valentin Schwarz’ Bayreuther Zyklus, aus meiner Sicht Armutszeugnisse des  Regietheaters.

Man lasse einfach nur eine große Könnerin wie Brigitte Fassbaender ans Werk und schon ist faszinierendes Musiktheater zu erleben, zeitlos seitens der menschlichen Konflikte mit exquisiten Sängerdarstellern, die ihre Figuren bis in kleinste mimische Regungen hinein glaubwürdig durchleben. Dabei gelingt die Kombination von moderner Ästhetik und signifikanten Requisiten und Zutaten, die für die Trilogie unentbehrlich erscheinen: eimerweise Gold im Rheingold, Weltesche und Schwert Nothung in der Walküre, und ein bisschen Feuerzauber um Brünnhildes Felsen.

Im Übrigen besorgen auf Kaspar Glarners sparsam möblierter Bühne schmale Laufstege, die dann und wann zu beiden Seiten aus den Wänden ausklappen und Podien an der Rampe, die zum Walkürenritt  aus dem Boden schräg nach oben fahren, effektreiche  atmosphärische Verwandlungen.

Mit zarten Videoanimationen von bewegtem Wasser zum Vorspiel vom Rheingold oder leicht bewegten Zweigen zu Siegmunds „Winterstürmen“ kommt zudem Poesie ins Spiel. Viel mehr braucht es auch nicht, besorgt doch das treffliche Ensemble alles Übrige.

Erl, Rheingold © Xiomara Bender

Auch wenn es für mich das erste Mal in Erl ist – in der Wagnerwelt hat sich der Ort längst als gute Alternative zu Bayreuth etabliert. Das bemerke ich schon im Shuttle-Bus aus Kufstein zum Passionsspielhaus anhand der Unterhaltungen zahlreicher älterer Connaisseure, die einst Legenden wie die Tenöre Wolfgang Windgassen und Jon Vickers oder Dirigenten wie Böhm und Solti erlebten und jahrzehntelang nach Bayreuth pilgerten, bis sie Katharina Wagner und ihre Regierabauken verschreckten.

Das Erler Festspielhaus erinnert zudem seitens der kargen, schmucklosen Innenarchitektur und mit seiner hervorragenden Akustik an das Bayreuther Festspielhaus. Und eine Besonderheit seitens des Orchesters gibt es auch: Das nimmt hier zwar nicht in einem weit überdachten Graben Platz, dafür aber auf einer Tribüne hinter der Spielfläche und den Sängern, abgeschirmt von einem Gaze-Vorhang.

Passionsspielhaus Erl, Photo: Regina Ströbl

Wenn Sänger dem Dirigenten mit dem Rücken zugewandt sind, so dass sie nicht mit Blicken kommunizieren können, ist das eigentlich eine sehr heikle Angelegenheit, die sich in Konzertsälen meist von großem Nachteil erweist, was Präzision, das gemeinsame Atmen und  Erleben von Empfindungen betrifft. In Erl aber funktioniert es gut dank der Monitore in der ersten Reihe im Publikum und intensiver Proben. Jedenfalls profitieren hier die Sänger davon, nie gegen ein mächtiges Orchester ansingen zu müssen, auch an den lautesten Stellen deckt das Festspielorchester sie nie zu.

Als ein großes Plus in Erl erweist sich ferner, dass dieser Ring auf der Bühne ohne die viel herumgereichten üblichen Verdächtigen auskommt. Bei aller Sympathie für Weltstars wie Jonas Kaufmann, Andreas Schager, Camilla Nylund, Anja Kampe oder Günther Groissböck erscheint es als eine wohltuende Abwechslung, einmal andere, darunter überwiegend noch junge Sängerinnen und Sänger mit ihren individuellen Qualitäten entdecken zu dürfen.

Erl, Walküre © Xiomara Bender

Und wenn dann das in Liebe verfallende Zwillingspaar Siegmund und Sieglinde seitens Statur und Alter in etwa harmoniert wie im Fall von Marco Jentzsch und Irina Simmes, die mit ihren schöne Stimmen, die sie schlank und agil in alle Register zu führen verstehen, und attraktiven Erscheinungen gefallen, ist ein besonderer Glücksfall gegeben. Zumal in ihren starken Rollenporträts Leidenschaft und Erotik ebenso viel Raum finden wie die anfänglich zaghafte, verstohlene Verliebtheit.

Simmes Sopran ist durchflutet von lyrischem jugendlichem Feinsinn, nur in dynamischen Spitzen in der Höhe („O hehrstes Wunder“) seitens der Tongebung eine Spur zu herb. Er, Marco Jentzsch, ist wie Kaufmann ein hoch attraktiver schlanker Siegmund – wenngleich mit langen Haaren und hoher Gestalt ein gänzlich anderer Typ, dem man seine große Verehrung für den einstigen genialen Wagnertenor Windgassen, den er sich zum Vorbild genommen hat, anhört. Großes Volumen paart sich bei ihm mit schöner Tongebung, Jentzsch singt Linien und deklamiert seine Texte mit bester Verständlichkeit.

Erl, Walküre © Xiomara Bender

Der in Erl verdient umjubelte Brite Simon Bailey zählt für mich mit seinem kräftigen, gut geführten, agilen Bariton, ebenfalls schöner Tongebung und trefflicher Textverständlichkeit zu den besten Wotanen, die ich live auf der Bühne gehört habe. Und so wie er ihn verkörpert, als einen traurigen, unfreien Gott mit Augenklappe und Speer, der sich, wie Brünnhilde es auf den Punkt bringt – geknebelt durch seine Verträge – selbst zum Feind wurde und damit zu einem sehr wütenden, gnadenlosen Vater, weckt er nostalgische Erinnerungen an so große angloamerikanische Vorgänger wie Donald McIntyre oder John Tomlinson.

Einen grandiosen Sängerdarsteller hat die Opernwelt des Weiteren in dem österreichisch-neuseeländischen Bassisten Anthony Robin Schneider gefunden, der den so ziemlich widerwärtigsten Hunding verkörpert, der mir auf der Bühne begegnete. Und das keineswegs als ein plumper Gewalttäter als den ihn Stefan Herheim in seiner überzogenen Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin in Szene setzt. Vielmehr wirkt Schneiders Hunding mit seinen bedrohlichen Gebärden und dem Ekel in seinem Gesicht schon zutiefst bedrohlich. Vieles bleibt gekonnt in der Andeutung.

Das ist es, was überhaupt Fassbaenders Regiearbeit so auszeichnet: die Subtilität im Psychologischen.

Schneider singt auch den Riesen Fafner, der auf hohen Sohlen mit Zylinder auftritt (ansprechende zeitlose Kostüme: Kaspar Glarner) und aus Gier seinen Bruder Fasolt tötet, wobei das mit einem Schlag auf den Kopf schnell abgehandelt ist, womit die Regisseurin auch dem Humor in Wagners Libretto Raum gibt. Dies freilich vor allem in jener Szene, in der Alberich sich der Forderung stellt, sich mittels Tarnhelm in ein kleines Tier zu verwandeln. Platsch macht es, und eine Plastikkröte hupft auf eine Balustrade.

Thomas de Vries, ebenso mit großem Volumen gerüstet und trefflicher Textverständlichkeit aufwartend, gibt den famosen Alberich, der Wotan damit in die Falle geht.

Christiane Libor, die Brünnhilde, habe ich vor vielen Jahren schon einmal in der Partie in Leipzig gehört. Insgesamt singt sie ihre anspruchsvolle Partie immer noch sehr achtbar und solide mit kleinen Einbußen in Tongebung und Intonation, aber um ehrlich zu sein,  wüsste ich aktuell keine bessere Sängerin für diese Rolle mit geringeren Erscheinungen des Verschleiß, im Gegenteil, die übrigen Verdächtigen singen in der Höhe meist mit dickerem Vibrato und größeren Schärfen. Vor allem aber gefällt Libor als starke Darstellerin, deren Ambivalenzen sich plastisch in Blicken und Gesten ausdrücken: ihre Zuneigung zu Wotan, ihre Empathie für Siegmund, ihre Zerrissenheit zwischen Gehorsam und Liebe, ihren selbstbewussten Trotz und Rebellion gegen den strengen, erbarmungslosen Rächer Wotan.

Dagegen steht Wotans Gattin Fricka als derjenigen, die schonungslos das mörderische Ende der inzestuösen Geschwisterliebe verlangt, entsprechend überzeugend von Bianca Andrew als eine hysterische Furie angelegt, die damit ihre enorme Vielseitigkeit unter Beweis stellt. Auch ihre runde, sonore große Stimme übertrifft so manche Mezzosoprane, die sich in der Rolle schon in Bayreuth die Ehre gaben, feierte sie etwa als Sesto in Händels Giulio Cesare  an der Oper Frankfurt große Erfolge.

Erl, Rheingold © Xiomara Bender

Gesanglich nicht ganz meinen Erwartungen entsprach Ian Koziara, zwar szenisch ein trefflich süffisanter, lakonischer Loge, aber vom Timbre her mehr Bariton als Tenor und in der Höhe ein wenig steif.

Alle übrigen Partien waren bis in kleinste Rollen superb besetzt, unter den Rheintöchtern ließ insbesondere der strahlende, luzide Sopran von Ilia Staple aufhorchen.

Dazu musizierte das Orchester der Tiroler Festspiele unter Erik Nielsen farbenreich und respektabel, zwar noch mit Luft nach oben im Spannungsaufbau in den Vorspielen, aber doch mit der gebotenen Dramatik und lyrischem Feinsinn.

In der Gesamtleistung war das für mich jedenfalls der beste Ring seit Jahren. Und wie so oft liegt die große Kunst dabei in der Schlichtheit der Szene. All den Aufwand, den so viele Regisseure betreiben, braucht es nicht. Oftmals reicht es einfach, die Geschichte spannend zu erzählen, ohne den Vorsatz, das Rad neu erfinden zu müssen, mit allem, was dazu gehört.

Brigitte Fassbaender ist das – das lässt sich zur Halbzeit der zweiten Runde schon sagen – gelungen. Schade, dass ihr Ring nur zwei Zyklen erlebt. Dass Jonas Kaufmann, der angehende künstlerische Leiter des Festivals, ihn noch einmal wiederaufnehmen wird, steht wohl leider nicht zu hoffen.

Kirsten Liese, 26. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Besetzung: 

Das Rheingold

Simon Bailey             Wotan
Ian Koziara                 Loge
Thomas de Vries       Alberich
Peter Marsh                Mime
Bianca Andrew          Fricka
Erda                               Zanda Švēde
Robert Pamakov       Fasolt
Anthony Robin Schneider      Fafner
Manuel Walser           Donner
Brian Michael Moore Froh
Elizabeth Reiter         Freia
Ilia Staple                     Woglinde
Karolina Makuła        Wellgunde
Marvic Monreal         Flosshilde

Die Walküre

Simon Bailey             Wotan
Brünnhilde                 Christiane Libor
Siegmund                   Marco Jentzsch
Sieglinde                     Irina Simmes
Fricka                           Bianca Andrew
Hunding                      Anthony Robin Schneider
Walküren:                  Ilia Staple, Mojca Bitenc, Nina Tarandek, Karolina Makuła, Helene Feldbauer, Anna-Katharina Tonauer, Sarah Mehnert, Marvic Monreal

Orchester und Chor der Tiroler Festspiele
Musikalische Leitung: Erik Nielsen

Richard Wagner, Das Rheingold Tiroler Festspiele Erl, 5. Juli 2024

Richard Wagner, Die Walküre Tiroler Festspiele Erl, 6. Juli 2024

Richard Wagner, Siegfried Tiroler Festspiele Erl, 8. Juli 2024

Richard Wagner, Götterdämmerung Tiroler Festspiele Erl, 10. Juli 2024

Abschluss Tiroler Festspiele Erl Erl in Tirol, 15. Juli 2024

Ein Gedanke zu „Richard Wagner, Der Ring des Nibelungen
Tiroler Festspiele Erl, 5. Juli bis 28. Juli 2024“

  1. Habe gerade den Auftritt mit dem Wanderer und Alberich im Radio aus Bayreuth gehört. … der für meine fast 50-jährige Erfahrung grauseligste WotanWanderer knödelte sich durch die Szene. Kammersänger T. K. aus Wien…
    Wie gut, dass ich letzte Woche in Erl (Simon Bailey) und im Mai in Wiesbaden (Michael Volle) hören und sehen durfte. Beide Ringe haben mich jeweils genau so viel gekostet wie eine einzige Karte in Bayreuth. Kirsten Lieses Kritik aus Erl kann ich fast 100% bestätigen.
    Deshalb gilt für den Ring: „Wilder Kaiser statt grüner Hügel“ 🤣🤣🤣

    Tschirri

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