Gesamtkunstwerk aus Natur und Kultur: Baltic Opera Festival überzeugt auch im zweiten Jahr

Baltic Opera Festival 2024  Waldoper in Zoppot vom 20. bis 25. Juli 2024

Baltic Opera Festival 2024 © Krzysztof Mystkowski

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne – und jeder Wiederholung ein Risiko. Denn erfolgreiche Debuts aller Art setzen nämlich nicht selten so hohe Erwartungen, sodass an ihnen dann gescheitert wird. Dieses Phänomen – der so genannte Sophomore Slump – trat beim Baltic Opera Festival in dessen zweiter Auflage nicht ein. Vielmehr überzeugte das Projekt um Starbariton Tomasz Konieczny im zweiten Jahr erneut und verspricht für die kommenden Jahre Großes.

 

von Willi Patzelt

Es ist nun genau ein Jahr her, dass man in der Waldbühne des polnischen Ostseebads Zoppot an die reiche Geschichte des Ortes als Festspielstätte anknüpfte. Denn bis zum Ende des zweiten Weltkrieges fanden dort bereits seit 1909 Opernfestspiele statt. Ab 1922 reine Richard-Wagner-Festspiele geworden, brachten sie jenem Nachbarort Danzigs den Beinamen Bayreuth des Nordens ein (näheres dazu HIER im Vorbericht).

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Damals mag diese Bezeichnung passender gewesen sein als heute. Doch eines hat sich kaum verändert: Der Hügel in Zoppot ist sogar noch grüner als der in Bayreuth. Auf ihn führt eine unscheinbare Straße, die sich durch einen dichten Wald schlängelt und nicht erahnen lässt, was an ihrem Ende wartet. Erst mit der letzten Kurve schält sich eine Bühne aus dem Grün, die – gleichzeitig imposant und doch organisch eingewachsen – so unglaublich anmutig erhöht liegt, dass sie schon vom beim ersten Anblick Vorfreude weckt.

Die galt diesmal Richard Wagners Fliegendem Holländer, und zwar in jener Produktion, mit der man im letzten Jahr das erste Baltic Opera Festival eröffnet hatte. Auf einer kleinen Bühne inmitten von Essens- und Getränkeständen hört man bereits aus der Distanz eine Herrenstimme beim Vorsingen und Erklären der wesentlichen Leitmotive. Und während die einen dem Einführungsvortrag auf Liegestühlen lauschen, erzählen andere begeistert – ein Bier in der Hand – von der diesjährigen Eröffnungspremiere: Puccinis Turandot.

Freiheit für die Ukraine – ein eindrückliches Zeichen

Besonders interessant hierbei: Im Graben war zur Turandot das Ukrainian Freedom Orchestra unter der Leitung seiner Chefdirigentin und Gründerin Keri-Lynn Wilson zu erleben. Die Einladung jenes Klangkörpers aus geflüchteten ukrainischen Musikern ist selbstverständlich auch ein politisches Zeichen.

Baltic Opera Festival 2024 © Krzysztof Mystkowski

Und zwar ein Zeichen, das besonders in Polen hohe Symbolkraft besitzt. Wohl kein europäisches Volk kann die schrecklichen Erfahrungen der heutigen Ukraine so sehr nachempfinden wie das polnische. Und es war auch in Polen, genauer in Danzig, wo durch Solidarność der eiserne Vorhang langsam Risse bekam – und wo Unfreiheit und Fremdbestimmung zuerst abgeschüttelt wurden.

Umso symbolträchtiger also, dass das Baltic Opera Festival mit Beethovens Neunter und einer Neukomposition der renommierten ukrainischen Komponistin Victoria Vita Poleva mit dem Titel Butscha Lacrimosa für Solovioline und Orchester sowie mit Beethovens Neunter ein Sonderkonzert ansetzte – freilich nicht in der Waldbühne, sondern in der Fertigungshalle der Gdingener Werft. Aussagekräftiger hätte der Veranstaltungsort nicht ausgewählt werden können, wehte doch der erste Hauch von Freiheit in Polen beim folgenreichen Streik von Werftarbeitern.

Baltic Opera Festival 2024 © Krzysztof Mystkowski

Die Botschaft jenseits der Noten

In der Halle herrschte eine deutlich spürbare Stimmung von geschichtsbewusster Ergriffenheit. Und das nicht zuletzt deshalb, weil der Nationalheld, Friedensnobelpreisträger, einstige Solidarność-Führer und polnische Staatspräsident Lech Wałęsa an diesem Abend Schirmherr war. Schon sein Betreten der Halle löste ehrfürchtige Begeisterung aus. Ein vor allem symbolisch wichtiger Abend!

Insofern ist es auch schon sekundär, dass Beethovens Neunte auf eigentlich ganzer Linie misslingt. Schuld daran ein deutlich zu groß geratener interpretatorischer Pinsel bei viel zu schnellen Tempi. Aber wesentlich ist dies nicht. Denn es geht um die künstlerische Botschaft jenseits der Noten – und die ist ergreifend! Besonders bewegend ist ferner jene Neukomposition, welche das furchtbare Massaker von Butscha eindrucksvoll und klangfarbig zwischen tiefstem Trauergesang mit einsam klagender Solo-Violine und angstschürenden Marschbewegungen in tiefem Blech und Schlagwerk emotional begreiflich macht. Und anders als bei Beethoven wird die unglaublich hallige Akustik der Fertigungshalle nicht zum Problem. Wie aus der Ferne mahnend, immer näherkommend und ins Bewusstsein tretend findet die großartige Komposition von Victoria Vita Poleva den Weg ins Herz der Zuhörer.

Baltic Opera Festival 2024 © Krzysztof Mystkowski

Beethovens Neunter hingegen hätte man die phänomenale Akkustik der Zoppoter Waldbühne gewünscht. Schon bei den ersten Takten der Holländer-Ouvertüre erinnert man sich an Bayreuther Klänge. Zwar ist der Graben nicht überdeckelt, jedoch – wie im fränkischen analog zum Festspielhaus – mit einem hölzernen Hohlraum gleichsam unterkellert. Schade, und auch nicht vollständig nachvollziehbar ist, dass sowohl Orchester und Sänger mikrofoniert sind. Der dadurch entstehende Klang ist dennoch natürlich und in keiner Weise irgendwie entstellend. Und trotzdem müsste es doch eigentlich ohne Verstärkung funktionieren. Funktionierte doch vor einhundert Jahren auch…

Baltic Opera Festival 2024 © Krzysztof Mystkowski

Sängerbesetzung auf Bayreuth-Niveau

Zumal dann, wenn es eine so vorzügliche Sängerbesetzung gibt wie an diesem Abend! Es ist wohl maßgeblich dem großen Tomasz Konieczny zu verdanken, dass es Bayreuth-würdige Besetzungen an der Ostsee gibt. Konieczny selbst ist stimmlich angeschlagen und kann nur den ersten Akt singen – dafür jedoch sehr überzeugend. Mit Oleksandr Pushniak springt freilich ein ebenso edler Holländer vom Bühnenrande singend ein. Und da Konieczny ein überragender Schauspieler ist, geht künstlerisch überhaupt nichts verloren.

Als des Holländers neugewonnener Schwiegervater vermag Rafał Siwek in der Rolle des Dalands leider nicht mitzuhalten. Die Textverständlichkeit ist bisweilen doch sehr eingeschränkt und auch stimmlich wirkt er oft zu dunkel und zu breit. Es mag an der Mikrofonierung gelegen haben; doch irgendwie fehlt der stimmliche Zugriff. Außerdem es misslich, dass seine Matrosen-Besatzung an der – leider nicht ganz unüblichen – Seemannskrankheit eines etwas proletisch-derben Wagner-Singens leidet. Nun ja, immerhin der Ausdruckswille ist zu loben. Herrlich anmutig vermögen hingegen die hoffnungsvoll wartenden Ehefrauen im Spinnerlied zu überzeugen.

Baltic Opera Festival 2024 © Krzysztof Mystkowski

Das Highlight des Abends ist freilich die großartige Litauerin Vida Miknevičiūtė als Senta. Mit ihrer so unglaublich großen, klangschön-anmutigen und nie ein angenehmes Maß an Vibrato überreizenden Stimme zeigt sie eine mitleidsvolle, aber überhaupt nicht naive, sondern als „Überzeugungstätern“ handelnde Senta. Wirklich ein Erlebnis! Ihr erlösungswillig in diesem Zuge verschmähter Erik ist mit Dominik Sutowicz ebenfalls hervorragend besetzt, und Rafał Bartmiński rundet als Steuermann das Solistenensemble gelungen ab.

Erweitertes Gesamtkunstwerk

Mit dem Orchester der Baltischen Oper Danzig unter der Leitung von Yaroslav Shemet kommt man auch mit dem im Graben Gebotenen durchaus auf seine Kosten. Shemet dirigiert zwar vor allem primär koordinierend, doch schafft er es dennoch immer wieder, vor allem die Melodiösität der Partitur zum Ausdruck zu bringen. Ob die hervorragende Lautstärkeabmischung nun freilich ihm oder dem Tonmeister zuzurechnen ist, bleibt unklar.

Dass Großartige am Baltic Opera Festival findet sich freilich nicht nur – sehr wohl aber auch – in seiner musikalischen Qualität. Hier ist nämlich auch ein erweitertes Gesamtkunstwerk möglich – und zwar nicht nur in der Kultur allein, sondern auch in deren Verbindung mit der umliegenden Natur. Die Bühne bietet jedenfalls alle Möglichkeiten. Ganz auf seine Kosten käme der Theaterdirektor aus Faust I hier bei dem Gebrauch des „groß und kleine(n) Himmelslicht(s)“. Die Lichtregie gelingt nämlich voller Anmut und unterstreicht jene wunderbare Symbiose des Musikalischen, Szenischen und Natürlichen.

Baltic Opera Festival 2024 © Krzysztof Mystkowski

In Zoppot wird man sich also auf noch mehr Großes freuen dürfen. Der Sophomore Slump blieb aus. Hoffentlich steht eine glänzende Zukunft bevor. Und da die Holländer-Inszenierung als eine zumindest vom Bühnenbild her recht naturalistische einherkam, die hinzugedichtete größtenteils Meta-Ebenen dankenswerterweise aussparte und dennoch im Großen und Ganzen überzeugte, stellt sich auch die Frage, ob vielleicht mancher Regietheater-Ermüdete hier eine neue Heimat finden kann. Man darf gespannt sein, wie das Team um Tomasz Konieczny das Festival zukünftig aufstellen wird. Das bislang dort Geleistete ist jedenfalls ein großer Gewinn für die europäische Musiktheater-Landschaft. Ob es sich wohl wieder wie vor knapp 100 Jahren zu einem der ganz wesentlichen europäischen Festivals zu entwickeln vermag? Die Zeichen dafür stehen nicht schlecht!

Willi Patzelt, 29. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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