Interview: „Richard Wagner war ein fantastischer Chorkomponist“

Interview: Jolanta Łada-Zielke im Gespräch mit Dr. Frank Piontek  zum Thema Chorwerke  klassik-begeistert.de, 1. August 2024

Dr. Frank Piontek und Jolanta Łada-Zielke am Festspielhügel, Foto: privat

Fortsetzung der Wagner-Gespräche von Jolanta Łada-Zielke mit Dr. Frank Piontek aus Bayreuth – dieses Mal über Chorwerke im Schaffen des Komponisten.

klassik-begeistert: Von 1843 bis 1849 fungierte Richard Wagner als Königlich-Sächsischer Kapellmeister der Dresdner Hofoper. Außerdem leitete er die Liedertafel Dresden. Waren diese beiden Funktionen miteinander verbunden?

Dr. Frank Piontek: Nein, die Leitung der Dresdner Liedertafel hat mit Wagners Kapellmeisterstelle gar nichts zu tun gehabt. Die Liedertafel war ein typisches Produkt der Zeit, da sich damals in Deutschland, der Schweiz und Österreich viele Gesangvereine bildeten. Wagner war bereits in Dresden bekannt, darum hat die dortige Liedertafel ihn gebeten, ihre Leitung zu übernehmen. Er hat das aber nach einiger Zeit abgegeben, weil er viele andere Verpflichtungen hatte.

klassik-begeistert: Hat er das Chorstück „Das Liebesmahl der Apostel“ für diesen Chorverein geschrieben?

Dr. Frank Piontek: Er hat das zu einem besonderen Anlass komponiert, nämlich für ein Liederfest in Dresden. Damals organisierten die Gesangsvereine in den größeren Städten solche Liederfeste und luden andere Chorvereinigungen dazu ein. Während der Feierlichkeiten führten einzelne Gruppen ihre eigenen Programme auf und/oder sangen alle gemeinsam ein bestimmtes Stück. „Das Liebesmahl der Apostel“ ist ein großes, spektakuläres Chorwerk, das zuerst a Capella anfängt, und nach ungefähr 24 Minuten kommt ein Orchester als Begleitung dazu. Die Uraufführung fand am 6. Juli 1843 in der Dresdner Frauenkirche, mit 1200 Sängern und 100 Orchestermusikern statt.

klassik-begeistert: Die Struktur und die Melodie dieses Stücks ähnelt dem Pilgerchor aus dem „Tannhäuser“.

Dr. Frank Piontek: Es gibt die These, dass Wagner „Das Liebesmahl…“ als politisches Stück konzipiert hat. Wenn man aus dem Text einige christlich belegte Worte herausnimmt, hat man einen Aufruf – zwar nicht zu einer Revolution, aber zum freien Denken und zur Wahrung der Menschenrechte. Wagner hätte dieses Stück nicht komponiert, wenn ihm diese Werte nicht am Herzen gelegen hätten. Der Text war auch von ihm. Das gesamte Stück ist eine sehr aufwendige, anspruchsvolle, aber auch sehr populäre Komposition. Das Finale klingt wie in einer italienischen Oper. Wagner war ein fantastischer Chorkomponist und hat in diesem Bereich viele herausragende Werke geschaffen. In der Dresdner Zeit schrieb er noch weitere Chorstücke, vor allem aus Spaß, weil er als Kapellmeister ein bisschen hervorstechen wollte. Diese sind im Stil der Liedertafel gehalten, haben aber eine ähnliche Textur und Thematik wie die Chöre in „Tannhäuser“.

klassik-begeistert: Wenn es in dem „Liebesmahl…“ um Menschenrechte ging, war es dann revolutionär für damalige Zeit?

Dr. Frank Piontek: Dafür gibt es zwar keine Beweise, es entspricht aber der programmatischen Linie von Werk Wagners, der sich schon in den 1830er Jahren mit der Freiheitsbewegung „Junges Deutschland“ solidarisierte. „Das Liebesmahl…“ entstand zwischen dem „Holländer“ und dem „Tannhäuser“ ganz auf dieser Linie, die menschliche Freiheit zu betonen. Insofern ist das ein integraler Bestandteil des Wagnerschen Schaffens.

„Das Liebesmahl der Apostel“ in der Aufführung von Ambrosian Male Voice Chorus, Symphonica of London und unter der Leitung von Wyn Morris, kann man unter folgendem Link hören:

RICHARD WAGNER „Das Liebesmahl der Apostel“ – YouTube

klassik-begeistert: Vier Opern sind mit der Dresdner Zeit des Wagner-Schaffens verbunden: „Rienzi“, „Der fliegende Holländer“‚ „Tannhäuser“ und „Lohengrin“. Welche Rolle spielt der Chor in jeder von ihnen?

Dr. Frank Piontek: In „Rienzi“ erscheint der Chor bereits in der ersten Szene als eine riesige, opportunistische Masse, die später zerstörerisch aktiv wird. Auf diese Weise schildert Wagner die Volksbewegung sehr realistisch und in Übereinstimmung mit den historischen Fakten. Dies wiederholt sich ein bisschen im „Lohengrin“. Im Gegensatz zu „Rienzi“ ist der Chor hier aber passiv und kommentiert die Ereignisse lediglich wie in einer antiken Tragödie. Das ist kein Zufall, weil es im „Lohengrin“ Anbindungen an griechische Mythen gibt. Wagner hat genau in dieser Zeit intensiv die antiken Tragödien studiert.

Im „Fliegenden Holländer“ hat der Chor eher einen folkloristischen Charakter, was man in den Szenen mit den Matrosen und den Spinnerinnen sieht. Die Frauen haben eine dramaturgische Funktion, indem sie eine Gegengruppe zu Senta darstellen. Der Chor als die Masse ist dem Individuum (Senta) gegenübergestellt. Im „Tannhäuser“ ist der Chor einerseits sehr statisch. In den zwei Szenen singen nur die Pilger ihr Lied bei den Durchzügen. In der Wartburg-Szene des zweiten Aktes nimmt der Chor an der Handlung auf gewisse Weise teil. Die Sänger reagieren kommentierend auf den Konflikt, der gerade auf der Bühne ausbricht. Hier sind sie aktiver am Geschehen als im „Lohengrin“ beteiligt, weil der Handlungsverlauf es ihnen erlaubt.

klassik-begeistert: Was wissen wir über die Chöre in den frühesten Opern des Bayreuther Meisters: „Das Liebesverbot“ und „Die Feen“?

Dr. Frank Piontek: „Die Feen“ ist eine wunderbare, romantische Oper par excellence, in der es die Feenchöre, also Frauenchöre gibt. Im „Liebesverbot“ repräsentiert der Chor das Volk von Sizilien, das auf der Seite der Jugendlichen steht, die die (angeblich freie) Liebe genießen wollen. Er steht hier für die Gesellschaft, die von einem Individuum – nämlich von dem Statthalter Friedrich – unterdrückt wird. Das ganze Volk ist praktisch gegen ihn, was Wagner sehr deutlich ausgedrückt hat.

klassik-begeistert: „Die Meistersinger von Nürnberg“ verdienen ein einzelnes Kapitel…

Dr. Frank Piontek: Ganz wichtig! Richard Wagner ist deswegen ein Genie gewesen, weil er darauf verzichtet hat, seine Theorien aus den Jahren 1850-51 konsequent aufzuführen. Als Künstler hat er – Gott sei Dank – sich selber widersprochen. Den „Ring des Nibelungen“ hat er auch nicht nach seinen in „Oper und Drama“ formulierten Kriterien komponiert. Schon die „Meistersinger…“ widersprechen allem, was er dortschreibt. Es liegt daran, dass er zu einer neuen Gattung – quasi einer intellektuellen Volksoper – etwas beiträgt. Dies ist konzipiert als eine tiefsinnige Komödie, die in einem konkreten historischen Raum spielt.

Wir haben dort mit einer Gesellschaft zu tun, wo die Meistersinger ein kleines Chorensemble bilden. Es gibt auch gelegentlich einen jungen Chor der Lehrbuben, die für Humor und Heiterkeit sorgen. Hier ist David ein solches Individuum, das dem Kollektiv gegenübersteht. Im dritten Aufzug, auf der Festwiese, steht der Chor sowohl für Nürnberg als auch für das deutsche Volk an sich. Dieser Chor begrüßt Hans Sachs und singt „Wach auf, es nahet gen den Tag“. Die Besetzung muss hier entsprechend groß sein. Ohne Chor würden „Die Meistersinger“ nicht so funktionieren, wie es Wagner sich vorgestellt hat. Die Nation und das Volk spielen darin eine wichtige Rolle und das geht nicht ohne Chor. In dieser Oper repräsentiert der Chor das Nationale.

klassik-begeistert:  Wie kann man diesen, dem Chor gewidmeten Auszug aus Wagners „Oper und Drama“, verstehen: „Der Chor der griechischen Tragödie hat seine gefühlsnotwendige Bedeutung für das Drama im modernen Orchester allein zurückgelassen, um in ihm, frei von aller Beengung, zu unermesslich mannigfaltiger Kundgebung sich zu entwickeln; seine reale, individuell menschliche Erscheinung ist dafür aber aus der Orchestra hinauf auf die Bühne versetzt, um den im griechischen Chore liegenden Keim seiner menschlichen Individualität zu höchster selbstständiger Blüte, als unmittelbar handelnder und leidender Teilnehmer des Dramas selbst, zu entfalten“.

Dr. Frank Piontek: Hier geht es darum, dass das Orchester die Rolle des Chores übernommen hat, konkret seine Kommentarfunktion, mit der Anwendung der Erinnerungsmotive. Deshalb konnte Wagner auf den Chor über weite Strecke verzichten, er machte das aber nicht komplett. Warum gibt es zum Beispiel den Chor in der „Götterdämmerung“? Weil es die erste Oper aus dem Ring-Zyklus war, die er konzipiert hat. Sie gehört zur Durchgangsphase zwischen der Abwendung von der großen Oper zum sog. Musikdrama. „Götterdämmerung“ repräsentiert noch, rein formal betrachtet, die Oper des 19. Jahrhunderts, von der Wagner sich emanzipiert hat.

Deswegen gibt es dort einen Männerchor im zweiten und dritten Akt, sowie einen kleinen Einsatz des Frauenchors im zweiten Aufzug. Aber der Chor ist im „Ring“ nicht so wichtig wie in einer großen historischen Oper des 19. Jahrhunderts. Auch in diesem Fall ist Wagner ein Opernreformer.

klassik-begeistert: In „Tristan und Isolde“ und „Parsifal“ gibt es nur wenige Chorsätze.

Dr. Frank Piontek: Wagner schließt sein Lebenswerk mit zwei der bedeutendsten Chorszenen in der Oper des 19. Jahrhunderts ab, wo der Chor auch aktiv wird. „Parsifal“ enthält zwei riesige Chortableaus. Im dritten Akt ist der Chor keine passive Masse wie im „Lohengrin“, wenn er Amfortas dazu bringt, den Gral zum letzten Mal zu enthüllen. Die Gralsritterschaft kann man nur durch einen Chor darstellen, was in dieser Oper fundamental wichtig ist; ohne Chor kann sie nicht funktionieren. Im „Tristan“ haben wir die Matrosen, die am Ende des ersten Aktes singen, und Isolde fühlt sich von ihrem Lied beleidigt. Also haben wir wieder die Opposition: Individuum – Kollektiv.

klassik-begeistert: Frauen haben in Wagner-Chören weniger zu singen. Nur im „Holländer“ haben sie ein separates Stück, im „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ nur bestimmte Passagen.

Dr. Frank Piontek: Ja, im „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ sind die Frauen nur ein Teil der Masse. Dies hängt mit der definierten Stellung der Frau in der Kunstwelt des 19. Jahrhunderts zusammen. Es gab damals hervorragende Solistinnen, was jedoch die Chöre betrifft, gab es weniger als 50 Prozent Frauenstimmen in Chören. Dies war sozial erklärbar, und darum haben die Frauen in Wagner-Chören keine solche Wucht wie die Männer. Dies gilt auch für „Götterdämmerung“. Dafür gibt es das geniale Walküren-Ensemble in der „Walküre“.

klassik-begeistert: Sollte der Chor in Wagners Opern eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern haben? Der aktuelle Festspielchor in Bayreuth wurde von 134 auf 121 Sängerinnen und Sänger reduziert.

Dr. Frank Piontek: Das hängt davon ab, wo man die betreffende Oper aufführt. Zum Beispiel wird der Chor in „Die Meistersinger“ in Cottbus anders besetzt als in Bayreuth oder Wien. Hier, in Bayreuth, hätte ich lieber die totale Besetzung. Der Klang des Chors hängt jedoch sehr stark davon ab, wie die Sängerinnen und Sänger aufgestellt sind und wie sie auf der Bühne agieren.

klassik-begeistert: Herzlichen Dank für das Gespräch.

Jolanta Łada-Zielke, 1. August 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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