Eine gelungene Performance aus mitreißenden musikalischen Ausführungen und packenden Tanzdarbietungen verleiht Antonio Vivaldis Top-Hit „Die vier Jahreszeiten“ üppigen Strahlglanz
Antonio Vivaldi „Le quattro stagioni“ op. 8, RV 269, 315, 293 und 297
Sinfonia aus „L’Olimpiade“ RV 725,
Sonate für Violoncello und B.c. RV 43,
Konzert für vier Violinen RV 580,
Konzert für Streichinstrumente und B.c. RV 151
Foto: Musikfest Bremen (c)
Le Concert de la Loge
Julien Chauvin Violine und Leitung
Tänzerinnen und Tänzer der Compagnie Käfig
Mourad Merzouki Choreografie und Regie
Konzerthaus Die Glocke, Großer Saal, 2. September 2024
von Dr. Gerd Klingeberg
Die Saalbeleuchtung ist auf freischütz-düster abgedimmt; die ganze Atmosphäre erschein leicht diesig vernebelt, so dass das Publikum erst mit kurzer Verzögerung den stillen Einzug des Orchesters realisiert. Hinten am Rand der vergrößerten Bühne der Glocke positioniert, wirkt das französische Originalklang-Ensemble „Le Concert de la Loge“ anfangs fast ein wenig verloren, ebenso wie auch die eingangs noch einschmeichelnd zart gespielten Harmonien.
Tatsächlich ist die Musik diesmal nicht alleiniger Selbstzweck, sondern Teil ein umfassenderen Performance. Denn als „Compagnie Käfig“ kommen kurz darauf auch noch sieben Tänzerinnen und Tänzer ins jetzt etwas heller ausleuchtende Rampenlicht: Prompt präsentiert sich das Bühnengeschehen in einer Dauerbewegung, die bis zum Konzertende nicht mehr nachlässt. Die sattsam bekannten Melodien von Vivaldis 1. Vierjahreszeiten-Konzert „La Primavera“ werden mit getanzten Frühlingsgefühlen sichtbarer, nachfühlbarer gemacht. Heftig ruckend geht es zu, in turbulentem Gewusel, mitunter fließend, mit Salti, Schwüngen, Überschlägen und rasant ausgeführten akrobatischen Hip-Hop- oder Breakdance-Figuren.
Die Choreografie setzt nicht auf mathematische Strenge oder gar militärische Disziplin; sie wirkt vielmehr ungezwungen, wie just improvisiert, unmittelbar aus dem Augenblick entstanden. Die legere, alles andere als körpernah geschnittene Kleidung der Tänzer unterstreicht diesen Charakter von Unbeschwertheit, Normalität und Alltag. Die gesamte Szenerie könnte sich so oder so ähnlich irgendwo auf einem öffentlichen Platz, einer Straße abspielen.
Und ja, Vivaldis Musik, ganz besonders sein ultimativer Superhit „Le quattro stagioni“ („Die vier Jahreszeiten“), ist mit ihrer eingängigen Melodik, mit den so oft eingesetzten Vivaldi-typischen Harmonieverschiebungen quinten- oder oktavenweise rauf und runter bestens geeignet, um in Körperbewegung umgesetzt zu werden.
Die vom „Prete rosso“, dem „Roten Priester“ Vivaldi häufig eingesetzte Teilung des Orchesters – in eine kleine Gruppe konzertierender Soloinstrumente (concertino) sowie, in Gegenüberstellung, das volle Ensemble (ripieno) – wird dann und wann von der Compagnie Käfig widergespiegelt. Die einzelnen Formationen sind dabei nicht zwingend an die Inhalte der „Vier Jahreszeiten“ angelehnt. Bedeutsamer ist vielmehr die Lebhaftigkeit dieses Geschehens, das die Musik in einen reizvollen Kontext setzt.
Und so temperamentvoll und dynamisch wie die Aktionen der Tanzformation gerät auch das Spiel der Instrumente. Vorneweg fungiert in Doppelfunktion Julien Chauvin als Leiter wie auch als Soloviolinist, der sich munter zwischen den Tänzern hin und her bewegt. Was immer die Vivaldi’schen Partituren hergeben, bekommt eine ordentliche Portion Drive, wird hier und da auch mal noch ein bisschen aufgepeppt und beginnt zu swingen, so dass Musik und Tanz auch im Dämmerlicht ein faszinierend farbüppiges Gesamtbild formen.
Im programmatischen Gesamtkonzept sind zwischen die einzelnen Teile der „Vier Jahreszeiten“ weitere Vivaldi-Kompositionen eingefügt. Die schnellen Sätze werden quicklebendig und mit gehörigem Elan in nicht selten beachtlich sportlichen Metren präsentiert, teils ausgelassene Volksfeststimmung oder ein stilisiert dargestelltes Tanzvergnügen inclusive. Die ruhigen Mittelsätze vermitteln hingegen romantische Sehnsüchte und Emotionen. Auch die hineinkomponierten Naturereignisse: Sturm, Hitze, Vogelgesang, bittere Kälte und dergleichen mehr, sind, wenngleich nicht allzu ausgeprägt, im Spiel der Instrumente problemlos erkennbar.
Das sichtbar angetane Publikum, darunter sehr viele jüngere Jahrgänge, geht begeistert mit; dass dabei nach nahezu jedem einzelnen Satz geklatscht wird, wirkt gelegentlich etwas störend, weil es einige Male den Spannungsbogen unterbricht. Dergleichen mag indes als Szenenapplaus durchaus in Ordnung gehen; schließlich geht es hier nicht um „Wohlverhalten“ wie bei einem typischen klassischen Konzert.
An die neunzig Minuten dauert der gesamte Spaß. Kurz vor Schluss stürmen die Tänzer in einer Art „wilder Horde“ noch einmal auf die Bretter, das Orchester legt sich ein letztes Mal voll ins Zeug. Wie engagiert sie sich alle eingesetzt haben, das lässt sich unschwer an den großen Schweißflecken an Brust und Rücken ausmachen. Ein tolles, für Klassik-Puristen vielleicht etwas gewöhnungsbedürftiges, aber rundum unterhaltsames und stimmungsvolles Vergnügen haben sie geboten, mit ihrem quasi schwellenlosen Zugang zu einer Musik, die auf diese Weise, von vermeintlichen Konzertsaalzwängen befreit, ein gewiss deutlich vergrößertes Potenzial an Freude und Vergnüglichkeit vermitteln kann.
Dr. Gerd Klingeberg, 3. September 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at