Palestrina, Eröd, Bankl, Kraus, Ensemble © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
Mit Pfitzners Palestrina erlebt man in Wien einen Abend, der noch lange nachklingen wird, zumal neuerliche Aufführungen wohl leider wieder lange auf sich warten lassen werden. Immerhin liegt die letzte Aufführungsserie in Wien fast ein Vierteljahrhundert zurück. Und es zeigt sich an diesem kalten Adventsabend gewissermaßen auch warum: Ein so ganz leicht verdauliches Werk ist dieser Palestrina nicht. Und dann ist da natürlich noch Pfitzners Antisemitismus, zu dem jedoch wirklich alles geschrieben ist. Jedenfalls gelingt mit seinem Palestrina in Wien ganz großes Musiktheater von einer hinreißenden Eindringlichkeit, die ihresgleichen sucht.
Hans Pfitzner (1869-1949)
Palestrina
Herbert Wernicke, Regie
Christian Thielemann, Dirigent
Orchester der Wiener Staatsoper
Wiener Staatsoper, 8. Dezember 2024
von Willi Patzelt
„Dieses nationalistische Scheißstück!“ – Es waren diese harschen Worte eines älteren Kritikers an Christian Thielemann, die ihn am Ende aus überzeugtem Widerspruchsgeist bestärkten, den Palestrina als frischgebackener GMD in Nürnberg als erste Neuproduktion seiner Amtszeit zu dirigieren. So erzählte es der in alles Preußische verliebte Kapellmeister vor einigen Jahren in einem Interview.
Wiederum schwer in ebenjenen Preußen verliebt ist das Wiener Staatsopernpublikum. Schon vor dem Erklingen jenes wie aus dem Nichts kommenden, mit vier Sologeigen und vier Flöten so herrlich instrumentierten Beginns des ersten Akts sind laute „Bravo“-Rufe zu hören. Am Ende des Abends sind diese noch lauter. Denn Pfitzners Palestrina ist mitnichten nationalistisch und schon überhaupt kein „Scheißstück“. Und die Aufführung ist eine, die ihresgleichen sucht.
Ein stiller Triumph
Es ist ein stiller Triumph, den der alte Giovanni Pierluigi da Palestrina am Ende dieses so eindringlichen Künstlerdramas feiert. Mit einem einzelnen, wie aus der Ferne klingenden Orgel-D schließt der Vorhang vor dem völlig in sich versunkenen Meister, der nicht zu hören scheint, wie das Volk ihn feiert («Evviva Palestrina, evviva der Retter der Musik!»). Was er in den vorangegangenen knapp vier Stunden Musik vollbrachte, war schließlich nicht weniger als die Rettung der polyphonen Kirchenmusik. Der Legende nach wollte das Konzil von Trient (1545-1563) sie verbieten, und zum gregorianischen Choral – den schließlich der Heilige Geist höchstselbst einst Papst Gregor dem Großen eingesagt haben soll – verpflichtend zurückkehren. Palestrinas Missa Papae Marcelli soll jedoch den im deutschen Trient versammelten Klerus abschließend von der polyphonen Tonkunst überzeugt haben, sodass von diesem Vorhaben wieder abgerückt wurde.
Pfitzner greift diese Legende, deren Faktizität heute vollständig widerlegt ist, in einem eindringlichen Künstlerdrama auf. Der alte Meister Palestrina ist zu Tode betrübt. Seine Frau Lukrezia ist verstorben, er findet keine musikalische Inspiration mehr, und ganz allgemein ist seine Musik aus der Mode gekommen. Sein großer Förderer und Patron, Carlo Kardinal Borromeo, will ihn zu einer Messkomposition überzeugen, doch Palestrina lehnt ab – ihn könne man zwar zwingen, aber seinen Genius nicht. Es ist am Ende die Erscheinung von neun großen Meistern der Tonkunst (explizit genannt werden Josquin Desprez und Heinrich Isaac), die ihm zurufen: „Dein Erdenpensum ist noch nicht getan!“ In einem nächtlichen Kompositionsrausch schreibt Palestrina jene Marcellus-Messe und rettet mit ihr die Kirchenmusik.
Dramaturgisch problematisch, musikalisch genial
Damit ist die Geschichte eigentlich erzählt – und doch ist gerade nur der erste Akt verklungen. So zeigt sich die womöglich etwas missliche dramaturgische Anlage des Werkes. Die Konzilssitzung des zweiten Akts ist ein durchaus stellenweise lustig anzusehendes Geschehen; verfeindete Fraktionen von Bischöfe und Kardinälen behaken sich aus nachvollziehbaren und weniger nachvollziehbaren Gründen, bis am Ende alles in Gewalt endet. Im dritten Akt kommt dann noch der von der Messe ebenfalls begeisterte Papst, und nach nur einer halben Stunde wird jener Erfolg gefeiert, der eigentlich schon am Ende des ersten Akts erreicht worden war – zumindest wenn man den göttlich eingegebenen Rettungsakt in der Komposition selber und nicht im Auffinden durch den Klerus sieht.
Doch Pfitzners so unglaublich subtile und spannungsreiche Musik lässt den Zuhörer gern die dramaturgischen Extraschleifen mitdrehen. Die spätromantische Tonsprache, die harmonisch über Richard Strauss noch hinausgeht und mit klangsinnlich-subtilem Orchesterklang auch immer wieder Klangbilder der Spätrenaissance durchscheinen lässt, ist von tiefschürfender Emotionalität, ohne je pathetisch überladen zu sein. Hätte Pfitzners Meisterwerk nur gleichsam eine Tür zur persönlichen Involvierung des Zuhörers geöffnet – beispielsweise über eine Liebesgeschichte – wie viel stärker könnte dann diese großartige Musik noch verfangen? So ist es ein durchaus schwer verdauliches Werk …
Klangzauber aus dem Graben, großartige Solisten
… aber dennoch ein nicht minder geniales – zumal, wenn es so musiziert wird, wie an diesem Abend im Haus am Ring! Die vielen Dialoge des ersten Aktes nimmt Thielemann flüssig und lebendig, ja lauscht die Tempi förmlich den Worten ab. Immer wieder zaubert er betörende Klangfarben, lässt das Orchester auf- und abschwingen. Jeder Bogen findet zurück in ein nie nur begleitendes, sondern immer bewusst-aktives Piano. Und über allem steht eine große musikalische Architektur: Nichts verpufft mit vergänglichem Effekt; Thielemann denkt in großen musikalischen Dimensionen und kreiert einen klangmagischen Kosmos, in dem sogar manche Längen – und die gibt es in dieser Partitur – als Weg zum Ziel den Zuhörer nicht in Spannungslöcher fallen lassen.
Zumal in dieser Besetzung auch jedes Wort dieses aus Pfitzners eigener Feder stammenden Librettos ohne Untertitel verständlich wird. Die große Entdeckung des Abends ist Kathrin Zukowski als Palestrinas Sohn Ighino. Ihr heller, so zielsicher formschöne Sopran ist gleichzeitig leicht und agil und doch nie nur ätherisch. Auf diese Stimme wird man sich sicherlich in Zukunft noch öfter freuen dürfen.
Michael Spyres gibt einen vielleicht etwas jung geratenen, aber stimmlich auf den Punkt getroffenen Palestrina, dem den einen typischen Künstlercharakter abzunehmen, jedoch auf Grund eines etwas sehr akademisch legeren Auftritts zuweilen schwerfällt.
Besonders überzeugt an diesem Abend Wolfgang Koch als Kardinal Borromeo, der mit seinem dramatischen Bariton an Ausdruck und Interpretationstiefe Maßstäbe setzt. Es ist bemerkenswert, dass hier insgesamt eine Sängerriege geboten wird, in der nun wirklich niemand abfällt, denn auch das gesamte Episkopat im zweiten Akt vermag stimmlich sehr zu überzeugen.
Einzig schade ist, dass Pfitzner dem Papst Pius IV. nur wenige Minuten Auftritt im dritten Akt vergönnte. Wie gern hätte man noch mehr vom großartigen Günther Groissböck gehört…
Unspektakuläre, aber überzeugende Inszenierung rundet nahezu perfektes Musiktheater ab
Dafür bleibt es an diesem Abend aus, das mittlerweile fast schon typisch gewordene Urteil über wichtige Opernaufführungen an großen Häusern, das meist so geht: Belehrendes Regietheater vermochte es trotz überbordenden Schwachsinns nicht, eine großartige musikalische Leistung vollends zu ruinieren. Denn die Wiener Inszenierung des bereits 2002 verstorbenen Herbert Wernicke setzt das ganze Geschehen in einen Konzertsaal, in dem sowohl im ersten und im dritten Akt Palestrinas Schreibtisch steht, aber auch im zweiten Akt das Konzil tagt. So wird der Grundkonflikt zwischen künstlerischer innerer Welt des Künstlers und der äußeren Realität klug in ein vereinendes Bild gefasst. Es ist eine Inszenierung die das Stück zum Leben erweckt, ohne es umkrempeln zu wollen.
Hoffen wir also, dass dieses etwas in die Jahre gekommene Bühnenbild nicht wirklich, wie Staatsopernintendant Bogdan Roščić im Vorfeld scherzhaft in Aussicht stellte, nach dem letzten Vorhang am 15. Dezember zu Staub zerfällt. Vielmehr bleibt zu hoffen, dass man den Palestrina in Zukunft öfter auf den Spielplänen antreffen wird. Denn Pfitzners Meisterwerk ist – und es lohnt sich, dies noch einmal abschließend klarzustellen – so ziemlich alles, nur kein „nationalistisches Scheißstück“…
Willi Patzelt, 10. Dezember 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
György Kurtág, Fin de partie, Text: Samuel Beckett Wiener Staatsoper, 19. Oktober 2024
Lieber Willi,
herzlichen Dank für Deinen trefflichen Bericht von der Aufführung am Sonntag. Wir hatten das Glück, diese auch erleben zu dürfen. Wir können Deine musikalischen Eindrücke nur bestätigen. Das war ein ganz großer Abend, die Bravi für alle Beteiligten waren mehr als verdient.
Deine Einschätzung „Palestrina“ sei „dramaturgisch problematisch“ und eigentlich sei die Geschichte nach dem ersten Akt erzählt, teilen wir jedoch so nicht. Zunächst: Wir haben uns keine Sekunde gelangweilt. Der erste Akt ist tatsächlich zwar der längste, aber eben auch der abwechselungsreichste. Die vorletzte Szene, in der die Engel Palestrina im Prinzip die Messe in die Feder diktieren und ihm seine verstorbene Frau Lukrezia erscheint, ist musikalisch und emotional zutiefst bewegend. Völlig ergriffen gehen wir in die Pause.
Dem gegenüber bringt der zweite Akt größtmögliche Abwechselung. Aber innerhalb des Aktes werden nicht einfach sinnlose Dispute geführt. Wer je einer größeren Tagung beigewohnt hat, erkennt mit größtem Amüsement die Palette der Teilnehmertypen wieder. Eigentlich fehlte nur noch der obligatorische „Buffet-Jäger“… Zugleich ist dieser Akt eine bitterböse Überspitzung des Verhältnisses der Politik zur Kunst an sich. Und erst hierdurch wird der Kern der Oper deutlich.
Es geht nicht nur um das Ringen des Künstlers mit sich selbst wie im ersten Akt. Dies wäre eine selbstreflexive Erzählung, wie sie allzu oft im Theater und in der Kunst allgemein anzutreffen ist. Es geht um die Stellung des Künstlers und der Kunst in der Gesellschaft. Man erlebt im zweiten Akt, wie die Kunst an sich niemanden zu interessieren scheint und im Ränkespiel politischer Interessen instrumentalisiert wird.
Der dritte und letzte Akt ist nicht nur eine tröstliche Auflösung. Durch den vorangegangenen zweiten Akt, wird die innere Haltung Palestrinas nun erklärlich. Seine Kunst soll nicht ein Spielball der Politik sein, sondern für sich selbst Geltung besitzen. Dass selbst der Papst ihm außerordentlich dankt, ist ihm egal; auch die Lobesrufe der Bevölkerung nimmt er zwar wahr, freut sich darüber „mehr im Inneren“.
Im Übrigen ist die zunächst seltsam erscheinende Aufteilung der Oper 1. Akt 100 min, 2. Akt 70 min und 3. Akt 30 min keineswegs so seltsam, wie es zunächst scheinen mag. Nimmt man den ersten Akt als den Block des inneren Kampfes und die beiden letzten Akte als zweiten Block zur Stellung der Kunst in der Gesellschaft, ergibt sich auch rein zeitlich eine perfekte Symmetrie.
Vielleicht ist es unserem Alter geschuldet, dass wir keine Liebesgeschichte vermissten, um die Tür zu öffnen, uns persönlich zu involvieren. Die Selbstzweifel, ob man als alternder Mensch noch einen wesentlichen Beitrag leisten kann, werden viele kennen und mitfühlen können. Wir jedenfalls haben mit Palestrina gelitten, gefühlt und gefreut.
Wir wünschen uns, dass möglichst viele diese geniale Oper unter diesem Licht nochmals sehen und hören können. Von daher liebe Opernhäuser: Nehmt sie auf den Spielplan, es lohnt sich!
Herzliche Grüße
Guido und Petra
Liebe Petra, lieber Guido,
nun… ja! Das Ziel meines Textes war es, auch darüber nachzudenken, weswegen der Palestrina vielleicht unabhängig von Pfitzners Antisemitismus selten gespielt wird. Dementsprechend ging es bzgl. jenes „emotionalen Türöffners“ auch nicht um meine eigene Perspektive. Auch ich kann gut einige Stunden in der Oper verbringen, ohne eine Liebesgeschichte zu erleben. 😉 Sind sie nicht im echten Leben ohnehin viel schöner? (Vermutlich nein… aber das ist ein anderes Thema! 😀 ) In jedem Falle scheint mir das auch eigentlich keine Altersfrage zu sein – man denke ja nur an die Marschallin…
Und ja, auch mir war keine Minute langweilig. Aber das lag primär an dieser – wie Ihr es exemplarisch für das Ende des ersten Akts betont – hinreißend guten Musik! Natürlich geht es im Palestrina nicht nur um den inneren Kampf Palestrinas. Mir schien allerdings die Inszenierung dies in den Vordergrund zu stellen. Jener Konzertsaal ist die verkörperte Schaffenssphäre des Meisters. Dass das Konzil in jenem Ort stattfand, implizierte für mich primär ein Hervorheben der zerstreuenden Wirkung jener Ränkespiele auf den Künstler als ein Verhandeln seiner gesellschaftliche Stellung. Aber sicher, es ist ein bedenkenswerter Aspekt dieses großartigen Werkes… Jedenfalls ist doch aber selbstreflexives Theater nichts grundsätzlich Schlechtes. Irgendwie bildet der Palestrina dahingehend eine schöne Ergänzung zu den Meistersingern. Oder was meint Ihr?
Und na klar: Auch ich habe mit Palestrina gelitten, gefühlt und gefreut. Der Weg zu diesem völlig beseelten Gemütszustand hätte jedoch womöglich dramaturgisch schon geschickter angelegt werden können. Aber ich stimme zu: Wer mit offenem Herz in dieses Stück geht, wird nichts vermissen. Und dennoch ist es schwer verdauliche Kost. Aber sie schmeckt – um im Bilde zu bleiben – freilich ungemein gut. Also, mehr davon bitte!
Herzliche Grüße
Willi
Ich habe die Produktion wegen zeitnaher anderer Verpflichtungen leider nur im Livestream der Wiener Staatsoper sehen können und bin schon von dem Erleben aus der Konserve tief beeindruckt!
Wie schade, dass nur vier Vorstellungen angeboten werden, gerade für eine nicht so ganz eingängige Tonsprache braucht es eines intensiven Einhörens. Wenn ich es schaffe, sehe ich mir den Stream morgen oder übermorgen nochmal an.
Ich kann den Mitschnitt, der noch 72 Stunden gültig ist, nur jedem empfehlen, der die Reise nach Wien gerade nicht schafft, und hoffe, dass Christian Thielemann Gelegenheit haben wird, entweder diese Produktion in einer weiteren Serie wiederaufzunehmen oder aber die Oper an der Berliner Staatsoper einmal aufzunehmen, entweder in einer vergleichsweise ansprechenden Inszenierung oder konzertant. Es gibt ja keinen zweiten, der sich annähernd soviel mit Pfitzner beschäftigt hat und sich auf dessen Tonsprache so grandios versteht.
Kirsten Liese