Konzerthaus Berlin, Außenansicht, Abend © Felix Löchner / Sichtkreis
Wie ich ein Rindvieh auf einem Dach hörte, das sich als Giraffe verkleidet hatte und vom Karneval in Rio nach Hause tänzelte. Ein seltenes Vergnügen!
MITTENDRIN
Konzerthausorchester Berlin
Iván Fischer Dirigent
Darius Milhaud: Le bœuf sur le toit
Erik Satie: Gymnopédie Nr. 1, für Orchester bearbeitet von Claude Debussy
Erik Satie: Gnossienne Nr. 3, für Orchester bearbeitet von Francis Poulenc
Maurice Ravel: La Valse – Poème choréographique für Orchester
Konzerthaus Berlin, 9. Januar 2025
von Sandra Grohmann
Füher hieß es Stereo, heute heißt es wohl Dolby Surround, und in all diesen Fällen strebten HiFi-Begeisterte danach, sich von allen Seiten mit Klängen zu umgeben. Was für ein sinnloses, ja lächerliches Unterfangen das ist, führt das Konzerthausorchester Berlin mehrmals jährlich mit seinen MITTENDRIN-Konzerten vor, für die ein jeder Parkett- oder Rangkarten erwerben kann. Zu empfehlen ist natürlich Parkett, weil man dann mitten im Orchester sitzt, das sich wiederum über das ganze Parkett verteilt.
Iván Fischer praktiziert dieses Format seit einer ganzen Reihe von Jahren, und das Erlebnis, das er seinem Publikum damit bereitet, ist unbeschreiblich. Also – nicht ganz. Einige Aspekte lassen sich sehr einfach benennen:
Erstens kommt man mit den Musikern ins Plaudern, von denen das einige nach eigenem Bekunden durchaus zu schätzen wissen.
Zweitens kann man neben seinem Lieblingsinstrument Platz nehmen.
Drittens die Noten mitlesen.
Viertens entdecken, dass die Tuba hinter einem gar nicht so laut ist wie erwartet.
Fünftens die Qualitäten des Dirigenten Fischer als Conferencier genießen.
Sechstens Iván Fischer per SMS Fragen senden, die er nach dem Konzert sehr launig beantwortet.
Aber siebtens! Siebtens ist das Allergrößte. Siebtens ist etwas, das sich mit Surround-Sound nur unvollständig benennen lässt. Siebtens ist auch nicht bloß im Orchester Sitzen. Siebtens ist einen Saal neu kennenlernen, als ein einziges Instrument, wie Fischer sagt – sein Instrument. Siebtens heißt, die Harfen vom anderen Ende des Parketts (da, wo normalerweise die Bühne steht) hören und die Celli rechts neben einem, fast unterm Rang, und die Kontrabässe links weiter hinten, ebenfalls fast unterm Rang. Die Klänge rauschen durch den Saal und ergänzen einander trotz der Entfernung.
Siebtens heißt: Ein Klangbad nehmen können. Sich von Glück durchströmen lassen.
Diesmal mit einem zauberhaften französischen Programm. Die Komponistenelite der vorletzten Jahrhunderwende wartet auf:
Zu Beginn das herrlich absurde Stück „Le bœuf sur le toit“, also das Rind auf dem Dach, von Darius Milhaud. Ein Tanzstück, stark von Milhauds Zeit in Brasilien beeinflusst – doch das Rind ist komponiert wie eine dezent torkelnde Giraffe, die das Kunststück mit den Sambaschritten nicht richtig hinbekommt. Vielleicht hören wir ein Karnevalskostüm, wer weiß. Dieser musikalische Scherz macht richtig gute Laune, der halbe Saal wippt mit. Der Trompeter links vor mir und die Cellistin weiter rechts vor mir grinsen, strahlen, lachen immer wieder. Die Proben müssen schon witzig gewesen sein.
Es folgen zwei Nummern aus den Gymnopédies und Gnossiennes von Satie. Zwischen Poesie und Ironie irisierende Klavierstücke, die von den weiteren französischen Großmeistern Debussy und Poulenc orchestriert wurden.
Auch Satie hatte es mit musikalischem Humor. Er war der Autor von Klavierwerken mit so einleuchtenden Titeln wie „Sonatine bureaucratique“ (bürokratische Sonatine) oder der drei Stücke in Form einer Birne. Heute stehen aber die zarten, tänzerischen Werke auf dem Programm, deren Titel gar nichts Rechtes bedeuten. Satie hat sie sich ausgedacht. Vielleicht haben die Gnossiennes etwas mit gnostisch zu tun oder dem Ort Knossos auf Kreta. Die Wissenschaft rätselt!
Außerdem hören wir heute gar kein Klavier, sondern immer das ganze Orchester. Eine der am Ende des kurzen Abends verlesenen Fragen an den Maestro richtet sich daher darauf, wie man eigentlich Klavierstücke orchestriert. Fischer schlägt vor, ein großes Blatt Papier mit vielen Linien zu nehmen und die Orchesterstimmen darauf zu notieren. Ob wohl das Augenzwinkern von Milhaud und Satie auf den Mann mit dem Taktstock abgefärbt hat?
Zum Abschluss Ravel mit La Valse, dem Tanz in die Katastrophe. Fischer erläutert sehr witzig, wie man Walzer tanzt und warum die Wiener Philharmoniker so gut Walzer spielen können. Ein Fall von Folklore… Er nimmt die Thematik des paradox gebrochenen Stücks in seinen Abschlussworten noch einmal auf und (v)erklärt das Konzertorchester und überhaupt alle Orchester zu einem Künder der Wahrheit. Wenn Kunst Wahrheit ist, dann steht sie notwendigerweise im Widerspruch zu Fake News und Populismus. Mittendrin im Orchester lasse sich das, so meint er, auch inhaltlich besonders gut erfassen. Mittendrin im Orchester glauben wir ihm das bereitwillig. Wer möchte auch nicht auf der Seite der Wahrheit stehen!
Die vier choreographierenden Musikstücke entlassen das Publikum auf eisglatte Wege. Mein Wagen steht zum Glück im Parkhaus und ist nicht eingeschneit. Als ich einsteige, frage ich mich einen Moment lang, wie ich meinen langen gelben Hals durch die Autotür und vor allem unters Autodach bekommen soll. Das Rind auf dem Dach ist wohl doch besser als die Giraffe im Tutu. So viel Wahrheit war selten. Oder? Tanzen Sie gut durch die Nacht. Und träumen Sie was Absurdes.
Sandra Grohmann, 10. Januar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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