CD-Besprechung:
Eine Box erster Güte zum DSCH-Jahr 2025, für Einsteiger wie Fortgeschrittene. Alle Sinfonien, alle Solokonzerte, die Oper Lady Macbeth – und ein paar Schmankerl obendrauf. Das alles auf 19 CDs.
Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) – Alle Sinfonien, Konzerte, Lady Macbeth
Tanglewood Festival Chorus; New England Conservatory Symphonic Choir; Boston Symphony Orchestra; Andris Nelsons, Dirigent
Deutsche Grammophon, DG 486 6649
von Brian Cooper
Pünktlich zum Schostakowitsch-Jahr – am 9. August jährt sich zum 50. Mal sein Todestag – vollendet Mariss Jansons’ lettischer Landsmann und Privatschüler Andris Nelsons seinen Zyklus mit dem Boston Symphony Orchestra, der 19 CDs umfasst. Wer sich jahrelang mit Schostakowitsch befasst hat, vielleicht jahrzehntelang, oder aber wer ganz frisch von der Musik des DSCH berührt werden will, dürfte hier für etwa 70 Euro einen Schnapper landen, von dem er oder sie ein Leben lang etwas hat. Seit Ende März ist dieser Schatz auf dem Markt.
Der inzwischen verstorbene Musikwissenschaftler Tony Duggan hat sich in einem langen und lesenswerten Text mit Aufnahmen der Sinfonien Gustav Mahlers befasst. Zwei Schlüsse, zu denen er kommt, sind diese:
1. Gesamtaufnahmen sind insofern problematisch, als einzelne Sinfonien oft schwächer ausfallen können als Einzelaufnahmen anderer Dirigenten.
2. Er hat eine eindeutige Präferenz für Live-Aufnahmen.
Letzteres Kriterium ist hier in Gänze erfüllt; die Aufnahmen sind samt und sonders Livemitschnitte. Was hingegen die „Problematik“ eines box set betrifft, kommt Schostakowitsch insgesamt in den Zyklen von Valery Gergiev, dessen Mariinsky-Zyklus in der Pariser Salle Pleyel unvergessen bleibt, Bernard Haitink, Mariss Jansons, Kirill Kondraschin, Vasily Petrenko und Gennadi Roschdestwenski, den ich noch mit der Achten in Paris erleben durfte, mehr als gut weg; es gibt da sehr viel Hochkarätiges. Auch in Köln entstanden weiland unter Barshai (WDRSO) und Kitajenko (Gürzenich) hervorragende Gesamteinspielungen der Sinfonien. Daneben gibt es eine inzwischen unüberschaubare Fülle guter Einzelaufnahmen, etwa von Bernstein und Mrawinski.
Für Menschen, die gerade beginnen, die Musik des DSCH zu entdecken, bietet die hier vorliegende Nelsons-Box den Vorzug, dass sie nicht nur alle Sinfonien enthält, sondern auch die sechs Solokonzerte und die wichtigste Oper Lady Macbeth von Mzensk, nebst einer CD 13 mit weiteren Orchesterwerken, unter denen sich auch Barshais kraftvolles Arrangement des Achten Streichquartetts befindet, die Kammersinfonie op. 110a. Ganz nebenbei stößt die Festliche Ouvertüre op. 96 fast meine Lieblingsaufnahme des Werks mit Mikhail Pletnevs Russian National Orchestra vom Thron.
Beim Hören kann man chronologisch vorgehen. Vielleicht hilft aber auch eine – freilich sehr persönliche – Klassifizierung der Sinfonien in folgende Kategorien:
1. Die Eingängigen: der Geniestreich der 1., dann die 5., die 6., in weiten Teilen die 7., die 9. und schließlich definitiv die 10., deren quirliges Finale mit dem DSCH-Motiv wahre Freude bereitet, und mit der ich anfangen würde.
2. Die Sperrigen: 4, 8 und 11, alle in Moll. DSCH für Fortgeschrittene.
3. Die Schwachen: 2, 3 und 12, wobei sich letztere in dieser Einspielung als überraschend hörenswert und besser als ihr Ruf erweist und der grummelnde Beginn der Zweiten sowie der Choreinsatz in der Dritten Gänsehaut erzeugen.
4. Die letzten drei, Nr. 13-15, liegen irgendwo dazwischen. Die 13. etwa kann man durchaus auch zu den Sperrigen zählen. Mit ihrer klaren Haltung gegen jegliche Unmenschlichkeit und Barbarei kann Babi Jar live besonders aufwühlend sein, wie vor einigen Jahren mit Yannick Nézet-Séguin in Dortmund. Unter Nelsons singt Matthias Goerne die Solopartie.
Schostakowitschs Musik kann man selbstverständlich ohne biographische Vorkenntnisse hören, aber gerade dieses bewegte Leben ist so interessant, dass es sich damit zu befassen lohnt. Stellvertretend sei hier nur der polnische Komponist Krzysztof Meyer genannt, dessen 1995 bei Lübbe erschienene Biographie alles enthält, was man wissen sollte.
Denn gerade mit ein paar Details zum Leben des Dmitri Dmitrijewitsch erschließt sich einem der bittere Humor, der bisweilen beißende Sarkasmus des Mannes, umso stärker. Der vermeintliche Jubel am Ende der Fünften, hier triumphal interpretiert, ist lediglich vordergründig; der erste Satz der Neunten entsprach so ganz und gar nicht den Erwartungen des Stalin-Regimes, das sich nach einer monumentalen Achten mit einem kurzen Verspotten von Sinfonie konfrontiert sah; der letzte Satz der Sechsten und die Wilhelm Tell-Zitate in der 15. zeugen vom hellwachen Esprit eines Mannes, der angeblich aus Angst, von Stalins Schergen abgeholt zu werden, stets einen gepackten Koffer unterm Bett gehabt haben soll. Das brutal-dissonante dreifache Klopfen in der Kammersinfonie sagt alles.
Freilich gelingt nicht alles bei Nelsons vorzüglich, was Tony Duggans These stützt. Bisweilen fehlen mir dann doch die Intensität und der Schmerz, der diese Musik eigentlich so ergreifend macht. Beispielhaft sei hier die legendäre Einmarschszene im ersten Satz der Leningrader Sinfonie, der Siebten, genannt. Da geht bei Haitink, Jansons und Bernstein viel mehr die Post ab. Bei Nelsons wird durchgerast, dass es mehr wie eine Flucht denn wie ein Einmarsch daherkommt.
Die sechs Solokonzerte sind mit Yuja Wang (Klavierkonzerte), Yo-Yo Ma (Cellokonzerte) und Baiba Skride (Violinkonzerte) exquisit besetzt. Natürlich mögen etliche Menschen ihre Lieblingsaufnahmen haben. Bei mir sind es – natürlich! – die Widmungsträger Oistrach in den Violinkonzerten und Rostropowitsch in den Cellokonzerten sowie der Komponist selbst in den Klavierkonzerten (unter André Cluytens), aber in diesem Schuber sind alle Einspielungen mehr als adäquat.
In den langsamen Sätzen der beiden Klavierkonzerte betört Yuja Wangs feinsinniger Anschlag. Der Solotrompeter der Bostoner, Thomas Rolfs, spielt seinen Part im 1. Klavierkonzert fantastisch.
Baiba Skride erzeugt in der Kadenz am Ende der Passacaglia des 1. Violinkonzerts einen Klang und eine Spannung, die unter die Haut gehen. Ihr Geigenton ist gereift wie ein guter, schwerer Rotwein, der auch nach Jahren köstlich schmeckt.
Yo-Yo Ma habe ich noch immer nicht verziehen, dass er weiland mit Condoleezza Rice musiziert hat, einer sehr guten Amateurpianistin, die leider Folter super findet, als nationale „Sicherheitsberaterin“ der USA das berüchtigte Waterboarding sanktionierte und diesbezüglich gelogen hat, aber Mas süffiges Cellospiel ist hier einfach vorzüglich, wie stets.
Lady Macbeth von Mzensk nimmt die letzten drei CDs ein und ist ebenfalls stark besetzt, allen voran mit Kristīne Opolais, die übrigens auch in der 14. Sinfonie neben Bass Alexander Tsymbalyuk zu hören ist. Opolais, Ex-Gattin des Dirigenten, singt eine sehr gute Katerina Ismailowa. Insbesondere gefällt mir Günther Groissböck als Boris, und Peter Hoare als dessen Sohn sowie Brendan Gunnell als Sergei stehen den beiden in sängerischer Qualität kaum nach. Referenzaufnahme bleibt jene mit dem Ehepaar Galina Wischnewskaja und Mstislaw Rostropowitsch von 1979 (EMI); sehr reizvoll ist auch die DVD von 2006 mit Mariss Jansons aus Amsterdam (Opus Arte).
In Leipzig findet kommenden Mai ein bemerkenswertes Schostakowitsch-Festival statt. Es wird spannend sein, Nelsons mit seinen beiden Orchestern aus Leipzig und Boston live zu erleben – in einem Repertoire, das er förmlich in der DNA hat. Seine 19 CDs sind ein beeindruckender Teil seines Lebenswerks. Ich vergäbe vier von fünf Sternen.
Dr. Brian Cooper, 30. April 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
CD-Besprechung: Johannes Brahms, Ein deutsches Requiem op. 45 klassik-begeistert.de, 21. März 2025
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