Schostakowitsch V: „Es gibt keine Hoffnung“

Schostakowitsch-Festival V  Gewandhaus zu Leipzig, 17. Mai 2025

Boston Symphony Orchestra, Andris Nelsons Music Director of the Boston Symphony Orchestra © Jens Gerber

Andris Nelsons und das Boston Symphony Orchestra beim Leipziger Schostakowitsch-Festival mit der 8. Sinfonie, Gautier Capuçon spielt das 1. Cellokonzert.

Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) – Cellokonzert Nr. 1 Es-Dur op. 107; Sinfonie Nr. 8 c-Moll op. 65

Gautier Capuçon, Violoncello

Boston Symphony Orchestra
Andris Nelsons, Dirigent

Gewandhaus zu Leipzig, 17. Mai 2025

von Brian Cooper

Das erste Cellokonzert des Dmitri Schostakowitsch weist etliche Parallelen zum ersten Klavierkonzert auf. Da ist zum Einen in den ersten und dritten Sätzen eine klare Neigung zum Abdriften ins Groteske; zum Anderen ein herrlicher langsamer Satz von vermeintlicher Schlichtheit; und zum Dritten der Einsatz eines einzelnen Blechblasinstruments, das sehr solistisch agiert. Im Klavierkonzert ist die Trompete dem Klavier ebenbürtig, weshalb sie auch oft am Bühnenrand steht; im Cellokonzert füllt das Horn aus der hintersten Reihe den Saal mit nicht minder virtuosen Tönen. Der Solist des Boston Symphony Orchestra tat das mit prächtigen Horneinwürfen ganz wundervoll.

In Leipzig begann Gautier Capuçon, beim Festival für die beiden Solokonzerte und für viel Kammermusik zuständig, knackig und sonor mit dem viertönigen Motiv, das eine Variation des autobiographischen
D-Es-C-H ist. Sein Celloton ist ungemein reichhaltig, der ganze Korpus des schönen Instruments vibriert. Der erste Satz ist ein wilder Ritt, der Text im Programmheft dazu lesenswert und bilderreich: „Das Holz brabbelt, wie vom wilden Affen gebissen, wirr zwischen die scharfen Akzente der Streicher.“

Gautier Capuçon © Gregory Batardon

Den zweiten Satz kann man kaum beseelter spielen als Capuçon, dessen Celloton von herrlichem Orchesterklang unterfüttert wird. Andris Nelsons ist aufmerksam, die fis-Moll-Stelle zum Sterben schön, Capuçons Kantilenen in der hohen Lage sind unwiderstehlich. Im Horn sind feinste dynamische Abstufungen zu bewundern.

In der Kadenz stelle ich verblüfft Parallelen zum 9. Streichquartett fest, das ich doch gerade erst an diesem Nachmittag hörte. Es gibt dort quasi die gleichen dissonanten, ratlosen, verzweifelten Pizzicati wie im Konzert… Im Finalsatz kommt der Ritt nach absurdem Totentanz zu einem jähen Ende. Der Solist spielt gemeinsam mit den acht Bostoner Cellokollegen ein von ihm arrangiertes Prélude aus den 5 Préludes für zwei Violinen und Klavier des Meisters.

Schostakowitschs Achte ist der dritte sperrige Brocken am dritten Abend. Nach der Vierten und der Elften herrscht hier eine ähnliche Stimmung vor, nur dass die Achte gelegentlich auch, zusammen mit der Siebten und der Neunten, als Kriegssinfonie bezeichnet wird. In der Interpretation der Bostoner unter Andris Nelsons wird uns das plastisch vor Augen geführt. Der scharfe Kontrast zwischen extrem leise und fast nicht mehr auszuhaltendem fortissimo possibile erzielt einen faszinierenden Effekt, als es wieder leise wird: Man sieht vor dem geistigen Auge eine zerstörte Landschaft, vielleicht Leichen, kahle Bäume, verbrannte Erde. Plötzlich denke ich an einen Satz, den Carlos Kleiber in einer Probe leise zum Orchester sagte, um einen bestimmten Klang zu bekommen, den Stab schon gehoben: „Es gibt keine Hoffnung.“

Stampfendes Schlagwerk, kreischendes Holz, tremolierende Streicher, extrem gutes Blech: All das ist im Laufe dieser erschütternden Stunde zu erleben. Ein Bild, das bleibt: Der Perkussionist, der am tragischen Gipfel des Mittelsatzes Gong und große Trommel zugleich bedient. Das Orchester spielt exzellent, Nelsons formt klare Linien, man bleibt erschüttert zurück – wenn auch vielleicht nicht ganz so sehr wie nach der Elften vom Vorabend. Es ist aber eine insgesamt fein austarierte Klangbalance der Bostoner, die zugleich fasziniert und begeistert. Kurzum, es ist ein aufwühlendes Privileg, dieses Repertoire mit einem solchen Weltklasse-Orchester hören zu dürfen.

Auf dem Rückweg vom Restaurant zum Hotel entspinnt sich noch folgender Dialog zwischen zwei Mitarbeitern gegenüberliegender Kneipen. Jeder kehrt vor seiner eigenen Tür – wenn das mal keine gelebte Metapher ist – und stellt Stühle zusammen.

Mitarbeiter 1: „Na? Auch geschafft?“

Mitarbeiter 2: „Zum Glück. Und Du?“

Mitarbeiter 1: „Bei uns fiel noch eine Horde von 40 Leuten ein. Spontan.“

Mitarbeiter 2: „Wie? Gewandhaus oder Oper oder so?“

Mitarbeiter 1: „Schlimmer. Fußball.“

Ob des „Schlimmer“ muss ich plötzlich grinsen und denke an den Fußballfan Schostakowitsch. Das war er nämlich auch. Doch seine Musik ist spannender als jede Bundesligakonferenz, die an diesem Tag im Radio zu verfolgen gewesen wäre, und sei sie noch so XXL. Zwei Vereine, mit denen ich sympathisiere, spielen nächste Saison international; einer ist nicht abgestiegen und freut sich auf Stadtderbys. Leipzig geht leer aus.

Aber nur im Fußball.

Es ist ein guter Tag.

Ein Bus der Firma Globetrotter, der vorhin noch vor dem Gewandhaus war, gießt eine Horde von 40 Boomern vor den Hoteleingang. Heute Schostakowitsch 8, morgen Zoo. Das muss ein hochinteressanter Reiseveranstalter sein.

Dr. Brian Cooper, 18. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Schostakowitsch Festival I Gewandhaus zu Leipzig, 15. Mai 2025

Schostakowitsch-Festival II Gewandhaus zu Leipzig, Mendelssohn-Saal, 16. Mai 2025

Schostakowitsch-Festival III Gewandhaus zu Leipzig, 16. Mai 2025

Schostakowitsch-Festival IV Gewandhaus zu Leipzig, 17. Mai 2025

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