Hamburgische Staatsoper, 9. September 2018
„Bernstein Dances“, Ballettrevue von John Neumeier
Musik: Leonard Bernstein
Choreografie und Bühne: John Neumeier
Kostüme: Giorgio Armani
Dorothea Baumann, Sopran
Oedo Kuipers, Bariton
Sebastian Knauer, Klavier
Liza Ferschtman, Violine
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Garrett Keast, Musikalische Leitung
von Leonie Bünsch
100 Jahre Leonard Bernstein! Auch John Neumeier gedenkt seinem Freund und Kollegen und widmet ihm in Hamburg die Spielzeiteröffnung mit der Wiederaufnahme seiner Ballettrevue „Bernstein Dances“. Den Titel kann man auf zweierlei Weisen verstehen: „Bernstein tanzt“ und „Bernstein-Tänze“. Beides trifft auf diese Inszenierung zu.
Bei diesem Ballett geht es weniger darum, ein Künstlerportrait darzustellen, als vielmehr um eine Collage aus verschiedenen Begebenheiten im Leben Bernsteins. Vor allem aber geht es um die Musik, mit der sich Neumeier schon zu Lebzeiten des Komponisten tänzerisch auseinandersetzte. „Ich definiere den Abend als Revue“, sagt Neumeier über sein Ballett; „eine lose Folge von Kompositionen und Choreografien, verbunden im Geist Leonard Bernsteins.“
Zur Eröffnung des Abends spielt das Philharmonische Staatsorchester die Ouvertüre zu „Candide“. Auf der Bühne sieht man Bilder des Jubilars und den Ausschnitt eines Videos. So ist gleich klar, um wen es heute Abend gehen wird.
Der Solist des Abends (Christopher Evans) sitzt derweil am Flügel und probiert vorsichtig die ersten Töne. Eine ungewöhnliche Position für einen Tänzer. Doch er verkörpert heute den Künstler, der die ersten Schritte Richtung Karriere macht, sich fragt „Wer bin ich?“ und in New York das große Glück zu finden hofft. Bevor aber von Evans verlangt werden kann, auch noch als Pianist tätig zu werden, schleicht sich Sebastian Knauer seitlich an und übernimmt die Klaviatur.
Nach und nach klettern mehr und mehr Künstler unter dem Flügel hervor, sowohl Tänzer als auch das sängerische Duo, bestehend aus Dorothea Baumann und Oedo Kuipers. Toll, wie Musiker und Tänzer auf der Bühne vereint sind und miteinander interagieren. Die ausgebildeten Musicalsänger dürften es gewohnt sein, sich zu bewegen und ihrem Gesang auch körperlich Ausdruck zu verleihen. Dass das Tanzensemble jedoch für Bernsteins Musical-Hits als Chor fungiert, ist ein Novum.
Aber es ist unter anderem dieses Zusammenspiel, das für magische Momente auf der Bühne sorgt. Allen Beteiligten ist die Begeisterung für die Musik Bernsteins anzusehen. Bei den Tänzern hat man den Eindruck, sie hätten seit Wochen nur darauf gewartet, ihrer Energie zu dieser Musik freien Lauf zu lassen. Und diese Energie ist spürbar. Da ist die Leichtigkeit, welche die Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Balletts auszeichnet, da ist Lebendigkeit, Feuer und Leidenschaft, während das Orchester (nicht weniger spritzig) die Klassiker aus Bernsteins Musical-Welt zum Besten gibt.
Auch Baumann und Kuipers fügen sich hervorragend in dieses Spektakel ein. Während Baumann zwischendurch etwas schrill durch den nahezu ausverkauften Saal hallt, begeistert Kuipers durch Charme und Geschwindigkeit. Knauer sitzt indes noch eine Weile am Flügel, spielt einzelne Töne mit und macht sich Notizen. In diesen Momenten ist er es, der den Maestro spielt und ihm ein Gesicht gibt.
Der zweite Teil des Abends gestaltet sich wesentlich ruhiger als der erste. Den Beginn macht zwar erneut die Ouvertüre zu „Candide“, es folgt aber die „Serenade after Plato’s ‚Symposium‘“ für Solo-Violine, Streichorchester, Harfe und Schlagzeug sowie „Five Anniversaries“ für Klavier. Musikalisch gesehen ist der Abend ein echter Genuss. Die Philharmoniker beweisen stilistische Flexibilität und spielen unter Garrett Keasts Leitung hervorragend zusammen. Sebastian Knauer am Flügel zu erleben, ist ein Hochgenuss, auch wenn er kaum präsent ist. Und in Bernsteins „Serenade“ kommt nun auch Liza Ferschtman zur Geltung. Die zarten, weichen Töne der Geige beherrscht sie ebenso wie raue, harte Klänge. Letztere geben den Tänzerinnen und Tänzern ein akustisches Fundament, um ihrer Ernsthaftigkeit Ausdruck zu verleihen.
Christopher Evans und Jacopo Bellussi sind zwei Nachwuchskünstler wie sie im Buche stehen. Die jungen Solisten des Abends begeistern nicht nur durch ihren jugendlichen Esprit und ihre wirbelwindartigen Bewegungen. Besonders in der zweiten Hälfte zeigen sie, wie sie auch Seriosität und Tiefe empathisch transportieren können. Gemeinsam harmonieren sie ganz wunderbar. Auch Karen Azatyan ist eine Bereicherung für das tänzerische Ensemble. Seine butterweichen Bewegungen, aber auch ein zu erahnender Schalk in den Augen bringen das Publikum zum Schmunzeln.
Der Abend endet wie er begonnen hat: Evans sitzt als Bernstein am Klavier und spielt die ersten Töne von „Anniversary for Susanna Kyle“. Man weiß nicht, was in dem Künstler vorgeht. Ist er erleichtert, dass er den Durchbruch in New York wider Erwarten geschafft hat? Lässt er die entscheidenden Ereignisse noch einmal Revue passieren? Ist er ernüchtert oder dankbar? Bernstein selber liebte es, sich ans Klavier zu setzen. Es macht also Sinn, die Hommage an ihn und sein Schaffen auch dort zu beenden.
Der letzte Ton des Abends ist nicht gespielt. Der Vorhang geht noch einmal auf, und nun erklingt zum dritten Mal die Ouvertüre zu „Candide“. Dieses Mal, um alle tanzenden Künstler zu verabschieden. Das Publikum darf kräftig mitklatschen, und die allgemeine Begeisterung ist bereits mit jeder Faser spürbar. Sie entlädt sich dann beim Schlussapplaus. Tänzer, Sänger, Instrumentalisten – alle werden sie gebührend gefeiert und völlig zurecht umjubelt. Als John Neumeier die Bühne betritt, hält es niemanden mehr auf seinem Stuhl. Er selber wirkt sichtlich erfreut über die ausgesprochen enthusiastische Aufnahme durch das Publikum. Während schwungvoller Verbeugungsrunden lässt er sich eines jedoch nicht nehmen: eine tiefe Verbeugung vor dem Bild seines Freundes Leonard Bernstein.
Leonie Bünsch, 9. September 2018, für
klassik-begeistert.de
Eine wirklich sehr treffende und sprachlich wunderbar gestaltete Beschreibung und Beurteilung dieses unvergesslichen Abends! Danke, Frau Bünsch!
Sabine Stahl, Hamburg