Kent Nagano © Antoine Saito
Kent Nagano hat sich in Hamburg mit einem Weltkasse-Dirigat von Richard Wagners Oper Tristan und Isolde verabschiedet. In unserem Gespräch blickt der ehemalige Hamburger Generalmusikdirektor auf die persönlichen Höhepunkte seiner Hamburger Zeit zurück. Und erzählt, was er in Spanien vermissen wird.
Jörn Schmidt im Gespräch mit Kent Nagano, Teil II
klassik-begeistert: Viele Dirigenten-Karrieren beginnen im Orchestergraben. Korrepetitor, Assistent, irgendwann dann Generalmusikdirektor. Ihre auch?
Kent Nagano: JA.
klassik-begeistert: Ist der Durchbruch zum Weltstar erst mal geschafft, scheint sich der Schwerpunkt Richtung Konzertdirigent zu verschieben. Warum nur, lässt sich im Konzertsaal entspannter Geld verdienen? Eine Sinfonie braucht eben weniger Vorlauf, als eine Oper einzustudieren…
Kent Nagano: Es macht für mich wenig Sinn, Oper und Konzert voneinander zu trennen. Das wäre eine nachträglich gezogene, künstliche Grenze. Denn historisch betrachtet ist die eine musikalische Form aus der anderen entstanden. So betrachtet sind Vokal- und Instrumentalmusik untrennbar miteinander verbunden. Auch im kreativen Sinne beeinflusst ein Genre das andere. Deshalb ist und war es mir immer wichtig, das gesamte Repertoire aktiv und aktuell zu halten.
klassik-begeistert: Manche Oper höre ich wie eine Symphonie, mit Konzentration aufs Orchester. Mein Herausgeber sagt dann, verachte mir die Sänger nicht…
Kent Nagano: Wer könnte behaupten, dass die emotionale Tiefe einer Oper nicht manchmal tiefgründig von instrumentalen „symphonischen“ Passagen begleitet und gerahmt wird? Oder dass eine Symphonie nicht manchmal dramatisch oder lyrisch ist? Wenn Musik die menschliche Natur ausdrückt, geht das über Stimme und Instrument. Beide können Kontraste in Artikulation, Agogik, Dynamik, Inhalt, Emotion und Geist abbilden.
klassik-begeistert: Sind bereits künftige Gastdirigate in Hamburg vereinbart?
Kent Nagano: Ja, ich freue mich sehr auf ein Wiedersehen mit meiner Hamburger Familie. Es ist ein seltenes Privileg und eine große Ehre, seinem Ensemble bzw. Haus nach Vertragsende als Ehrendirigent verbunden zu bleiben. Mich hat das zutiefst bewegt.

klassik-begeistert: Den Solo-Pauker Brian Barker im Hamburger Orchestergaben zu erleben, ist zuweilen spektakulär. Allein schon seine kleinen Späße… Da fällt Ihnen sicher eine schöne Anekdote zu ein?
Kent Nagano: Kurz nach meiner Ankunft machte mich Herr Barker darauf aufmerksam, dass sich die Pauken in einem fragilen Zustand befinden… Bei einer unserer ersten Proben spielte Herr Barker sehr energisch, mit viel Enthusiasmus. So dass ein Metallteil seiner Pauke mit ziemlichem Krach zu Boden fiel. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt… Unsere Blicke trafen sich, und wir brachen beide in spontanes Gelächter aus. Weiterer Worte bedurfte es nicht…
klassik-begeistert: In Dresden reüssieren Sie mit einem historisch informierten Ring. Warum gab es in Hamburg keinen Nagano-Ring?
Kent Nagano: Herr Delnon hatte einen Ring geplant, aber dann kam uns die Covid-Pandemie dazwischen.
klassik-begeistert: Welche Bedeutung hat die historisch informierte Aufführungspraxis mittlerweile für Sie, jenseits der Dresdner Musikfestspiele?
Kent Nagano: Wie die meisten Künstler, die ich kenne und respektiere, halte ich es für wichtig, regelmäßig auf die Quelle zurückzukehren, um Inspiration zu finden. Das Verständnis der Ideale und Absichten des Komponisten ist die Grundlage jeder Interpretation. Mit Geduld und Disziplin kann man hier großartige Entdeckungen machen.
klassik-begeistert: Könnte man diese Suche als eine Art Zwiesprache mit dem Komponisten beschreiben?
Kent Nagano: Ich würde sogar so weit gehen, dass es unsere Aufgabe als Künstler ist, die Arbeit des Komponisten zu vollenden. Indem wir ein Werk aufführen und interpretieren. Damit das würdig gelingt, müssen wir uns in den Komponisten hineindenken. Wie er um Inspiration gerungen hat, und welche Werte er ausdrücken wollte.
klassik-begeistert: So gesehen kann das schnell mal schief gehen?
Kent Nagano: Wenn unsere Interpretation nicht auf einem Verständnis der Intention des Komponisten beruht, besteht die Gefahr der Nachahmung anderer Interpreten. Ohne ein sicheres Verständnis der Ideale des Komponisten kann die Integrität der Partitur und ihrer Ideale immens beeinträchtigt werden.
klassik-begeistert: Teilen Sie meine Einschätzung, dass Premieren künstlerisch überbewertet sind? Hier und da hakt es noch im Ensemble, erst ab der dritten oder vierten Aufführung läuft es rund…
Kent Nagano: Ich stelle mir jede Premiere wie die Geburt eines Kindes vor. Das Kind wächst und entwickelt sich mit der Zeit. Sehen Sie es mal so, vielleicht ändert das Ihre Einschätzung…
klassik-begeistert: Welche Ihrer Opern-Premieren waren besonders glanzvoll? Ein TOP 5 wäre schön…
Kent Nagano: Was meinen Sie mit glanzvoll? Glamourös im Sinne eines Events, das einen sofort begeistert. Aber eben nicht überwältigt?
klassik-begeistert: Nein, davon gibt es schon genug im modernen Regietheater. Ich dachte an Produktionen, die man nach der ersten Vorstellung immer wieder sehen möchte. Weil es in jeder Vorstellung etwas Neues oder Anderes zu entdecken gibt.

Kent Nagano: Noch besser, aber eben auch selten sind Momente, in denen auf der Bühne, im Orchestergraben und im Publikum kollektiv und unmittelbar klar wird: Wir sind Zeitzeugen, das war jetzt gerade HISTORY IN ITS MAKING… zu Ihrer Frage, spontan möchte ich Oliver Messiaen, Saint François d’Assise, nennen.
1983 durfte ich für fast ein Jahr lang Messiaen und seiner Frau Yvonne Loriod unter einem Dach leben, um die Uraufführung an der Opéra de Paris im Palais Garnier vorbereiten zu helfen. 2024 habe ich das Werk dann in der Elbphilharmonie aufgeführt. Dann natürlich unsere Hamburger Strauss-Trilogie (Salome, Elektra, Ariadne auf Naxos). Regisseur Dmitri Tcherniakov hat für alle drei Opern das gleiche Bühnenbild verwendet. Auch noch Hamburg, ebenfalls Richard Strauss: Die Frau ohne Schatten.
klassik-begeistert: Ich würde übrigens auch internationale Antworten akzeptieren…
Kent Nagano: 2022 habe ich an der Opéra national de Paris im Palais Garnier die Premiere von Leonard Bernsteins A Quiet Place in einer Neuinszenierung von Krzysztof Warlikowski dirigiert. Aus München die Premieren, die der Regisseur Andreas Kriegenburg verantwortet hat – Wozzeck und den kompletten Ring von Richard Wagner. Von den Salzburger Festspielen Kaija Saariaho, L’Amour de loin.
klassik-begeistert: Im Juli ist Peter Schmidt verstorben, der große Hamburger Designer mit viel Liebe für Oper und Ballett…
Kent Nagano: Das bringt uns zu Mozart… Peter Schmidt verantwortete das Artistic Concept unserer Idomeneo-Tournee mit dem Concerto Köln.
klassik-begeistert: Unter den Abonnement-Konzerten, welche Programme hatte für Sie einen besonderen Stellenwert?
Kent Nagano: Jörg Widmann hat mir in Hamburg zwei Uraufführungen anvertraut. ARCHE und Cantata in tempore belli. Das Oratoriom On a Clear Day von Sean Shepherd war auch eine Auftragskomposition des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg, zusammen mit den Dresdner Musikfestspielen. Die Uraufführung habe ich im April 2023 in der New Yorker Carnegie Hall dirigiert, mit Jan Vogler als Solist.
klassik-begeistert: Und weniger modern?
Kent Nagano: Vom klassischen symphonischen Repertoire möchte ich Mahler 3 und Bruckner 6 nennen, außerdem unsere Brahms und Schubert Zyklen. Dann Mozarts Große Messe in c-Moll und Haydns Die Jahreszeiten.
klassik-begeistert: In Hamburg liegt ein grandioses Surfrevier direkt vor der Haustür, die Nordesseinsel Sylt. Haben Sie die Brandung dort mal ausprobiert?
Kent Nagano: Nein, leider nicht.
klassik-begeistert: Wie schade… aber nach Spanien, dorthin nehmen Sie das Surfboard mit?

Kent Nagano: Womöglich bleibt mein Surfboard in Kalifornien, denn Surfen ist für mich Heimatliebe… Der schroffe Pazifik Nordkaliforniens mit seiner eiskalten, von Alaska gespeisten Strömung. Außerdem die Wildtiere dort und die einzigartig schöne, dramatische Natur. Mit all dem trete ich beim Surfen in eine Art Dialog – körperlich, emotional, spirituell, existenziell. Die Demut, die ich dabei erlebe, ist großartig.
klassik-begeistert: Welches Stück Hamburger Alltag haben Sie derart lieb gewonnen, dass Sie es in Spanien vermissen werden?
Kent Nagano: In Hamburg ist es oft kalt, bewölkt, windig und feucht. Das wird mir fehlen [lacht]. Wie der leichte Salzgeruch in der Luft und der Gesang der Seevögel. In Hamburg habe ich erstmals Rote Grütze gegessen, das werde ich kulinarisch vermissen.
klassik-begeistert: Und kulturell?
Kent Nagano: Die Gottesdienste und das meisterhafte Orgelspiel den Hauptkirchen St. Petri und St. Michaelis. Am meisten aber werde ich meine Hamburger musikalische Familie und viele Freunde vermissen.
klassik-begeistert: Herzlichen Dank für das Gespräch!
Den dritten und letzten Teil unseres Interviews mit Kent Nagano lesen Sie Mittwoch, 10. September 2025 hier auf klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at.
Interview: kb im Gespräch mit Kent Nagano, Teil I klassik-begeistert.de, 8. September 2025