Kent Nagano: ¡Vamos a España! Der große Städtevergleich

Interview: kb im Gespräch mit Kent Nagano, Teil III  klassik-begeistert.de, 10. September 2025

Kent Nagano © Felix Broede

Zum Abschluss unseres Gesprächs wurde es temperamentvoll, wir vergleichen Hamburg mit Madrid. Deklinieren angelegentlich die großen Klischees wie Paella, Fiestas, Siesta und spanisches Zeitgefühl.  Erfahren außerdem, was Kent Nagano in Spanien erwartet, und was er daraus macht – eine Weltklasseorchester natürlich, wie in Hamburg.

Jörn Schmidt im Gespräch mit Kent Nagano, Teil III

klassik-begeistert: Was hat Sie bewogen, Chefdirigent und künstlerischer Leiter des Orquesta y Coro Nacionales de España (OCNE) in Madrid zu werden?

Kent Nagano: Wenn man so will, hat sich das die letzten 15 Jahren angebahnt, in denen ich mit dem spanischen Nationalorchester und seinem Chor gelegentlich, aber sehr intensiv zusammengearbeitet habe. Unser Repertoire ist recht breit, von Haydn bis Henze. Als es dann ernst wurde, vor meiner Zusage, habe ich mich intensiv mit Kultur und Geschichte Spaniens beschäftigt. Ich bin tief beeindruckt, wie bedeutend der Einfluss dieser großartigen Kultur weltweit ist – von Europa über Asien und Afrika bis hin nach Amerika.

klassik-begeistert: Hatte Ihre Familie auch ein Wörtchen mitzureden?

Kent Nagano: Selbstverständlich. Meine Frau freut sich schon, Spanisch zu lernen.

Kent Nagano und seine Frau Mari Kodama © STEVE MADDENAGENCE-QMI

klassik-begeistert: Haben Sie sich vor Unterschrift mit dem aktuellem Chefdirigenten  des OCNE, David Afkham, ausgetauscht?

Kent Nagano: Ja, natürlich. Maestro Afkam hat mir großzügig Zeit  gewährt und seine Perspektiven geteilt. Ich habe auch ausführlich mit Maestro Josep Pons gesprochen.

klassik-begeistert: Bis es im September 2026 losgeht, da legen Sie ein wohlverdientes Sabbatical ein?

Kent Nagano: Teils, teils… Ich freue mich sehr auf mehrere Monate Sabbatical… Ebenso freudig werde ich in der Saison 25/26  Verpflichtungen als Gastdirigent wahrnehmen. Das ist in meiner Zeit als Hamburger Generalmusikdirektor  manchmal zu kurz gekommen. Außerdem geht unser nunmehr zwölfjähriges wissenschaftlich-künstlerisches Projekt „Richard Wagners ‚Der Ring des Nibelungen‘ in historisch informierter Aufführungspraxis“ in die letzte Phase.

klassik-begeistert: Und Sie haben endlich Zeit für Olivier Messiaen Ehefrau, bei der Sie Klavier studiert haben…

Kent Nagano:  Das ist ein weiters Forschungsprojekt, das mir sehr am Herzen liegt. Yvonne Loriod ist vor allem als eine der führenden Interpretinnen der Musik von Messiaen bekannt. Sie ist aber eben auch eine der wichtigsten Komponistinnen des 20. Jahrhunderts und war wie Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Iannis Xenakis  Teil der berühmten Kompositionsklasse von Olivier Messiaen.

Kent Nagano mit Messiaen © privat

klassik-begeistert: Können wir uns auf Neuentdeckungen freuen?

Kent Nagano:  Während der Covid-Pandemie wurde mir Zugang zu den Partituren ihrer Werke gewährt. In Zusammenarbeit mit der französischen Nationalbibliothek, Radio France und dem WDR  werden einige Werke erstmals aufgeführt und  auf Tonspur dokumentiert.

klassik-begeistert: Wie würden Sie den Klang der Madrilenen beschreiben, hat das OCNE eine typisch spanische Klangkultur? Welche Farbe beschreibt das am besten?

Kent Nagano: Auch hier lege ich als Maßstab mein existentialistisches Klangideal an [Anm. Jörn Schmidt: Lesen Sie dazu bitte Teil 1 meines Interviews mit Kent Nagano].  Wie immer muss man sich vor einfachen Stereotypen hüten…Das Orchester  spiegelt den Volkstanz und die Volksmusik Spaniens wider,  diese tief im Land verwurzelten Traditionen.  Wie auch die spanische Kulturgeschichte. Die enge Verbindung mit dem Königreich Burgund und dem Österreichischen Reich. Dann die christlichen und muslimischen Einflüsse. Auch die  griechischen Kolonisation.  Das alles resultiert in einem sehr speziellen, komplexen Klangspektrum.

klassik-begeistert: Also viel und vor allem faszinierendes Potential, den Klang des Orchesters weiterzuentwickeln und an die Weltspitze vorzurücken?

Kent Nagano: Dank seiner Klangkultur gilt das Orchester bereits als ein weltweit einzigartiges Ensemble, dessen historische Tradition und internationale Bedeutung weit zurückreicht. Meine Aufgabe ist es, die Persönlichkeit des Orchesters zu schärfen. Und weiterentwickeln kann man sich immer…

klassik-begeistert: Das 1940 gegründete OCNE ist ein Sinfonieorchester ohne Opernbezug. Da fehlt Ihnen doch was?

Kent Nagano: Ich werde der Oper weiter treu bleiben, wenn auch anders. Oder besser, mit Blick auf die Spielorte, vielseitiger. Bestehende Zusammenarbeiten mit Festivals und Opernhäusern setze ich fort. Anderswo werden sich neue Gelegenheiten ergeben.

klassik-begeistert: Wir hatten ja bereits darüber gesprochen, dass sich Oper und Konzert gegenseitig bedingen [Anm. Jörn Schmidt: Vgl. dazu Teil 2 meines Interviews mit Kent Nagano]…

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Elbphilharmonie GroßerSaal, 18.02.2024, Kent Nagano, © Claudia Hoehne

Kent Nagano: [nickt] Das Bayerische Staatsorchester und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg haben ihre Wurzeln in der Oper. Gleichwohl gibt es dort wie in den meisten Opernhäusern eine Tradition sinfonischer Abonnentenkonzerte. So wie umgekehrt das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin, das Orchestre symphonique de Montréal und Hallé-Orchester in Manchester in der symphonischen Tradition stehen, während meiner Amtszeiten gleichwohl Opernaufführungen gegeben haben.

klassik-begeistert: Apropos, ein Leben ohne Oper. Warum, glauben Sie, hat Anton Bruckner als glühender Wagner-Verehrer keine große  Oper komponiert? Vielleicht ein zu viel an Ehrfurcht?

Kent Nagano: Das ist eine interessante Frage, die man auch Johannes Brahms und Gustav Mahler stellen müsste. Ich möchte mir indes nicht anmaßen, hier für Anton Brucker zu sprechen…

klassik-begeistert: Die Website des OCNE ist derzeit nur in Landessprache erreichbar. Steht in Ihrem Lastenheft auch, das Orchester internationaler zu machen?

Kent Nagano: Die Website erreicht bereits viele Menschen, Spanisch dürfte nach Englisch die am zweithäufigsten gesprochene Muttersprache der Welt sein. Dennoch, wenn nicht schon geschehen… die Website auch für Englischsprachige zugänglich zu machen, das fände ich gut. Im Übrigen sprechen wir die universellste Sprache der Welt: Die Musik.

klassik-begeistert: Dürfen Sie schon das Programm Ihres Antrittskonzerts verraten? In Hamburg haben  Sie sich mit Brahms 4 verabschiedet, in Madrid startet man mit Flamenco?

Kent Nagano: Die Planungen für der Saison 26 / 27 sind  abgeschlossen, das Programm wird nächstes  Frühjahr bekannt gegeben. Wir hoffen, dass Sie uns dort besuchen kommen.

klassik-begeistert: Unheimlich gerne. Ich versuche das einzurichten, sobald das Programm veröffentlicht ist… also  kein Flamenco zum Start?

Kent Nagano: [guckt freundlich]

klassik-begeistert: Ich sehe, Sie dürfen nicht spoilern… Gibt es in Madrid ein ähnlich großzügiges Budget für Kompositionsaufträge wie in Hamburg?

Kent Nagano: Bei allen Vertragsverhandlungen versuche ich sorgfältig zu erläutern, dass es – aus meiner Sicht – unsere Verantwortung als Musiker ist, Geschichte zu gestalten und zu ermöglichen. Dass wir in die Zukunft investieren müssen… Spanien hat dem vollumfänglich zugestimmt!

klassik-begeistert: Viele Orchester haben, was ich eine  Komponisten-Tradition nennen möchte. Das Concertgebouw in Amsterdam ist ein solches Beispiel mit seiner langen und bedeutenden Historie in der Aufführung der Werke von Gustav Mahler, beginnend mit Mahlers Dirigaten. Hat das OCNE eine ähnliche Tradition vorzuweisen?

Kent Nagano: Nein, das ist aber überhaupt kein Nachteil.  Wie bei vielen anderen Orchestern… hier möchte ich als Beispiel die deutschen Rundfunkorchester nennen… speist sich die DNA des OCNE aus der kulturellen Tradition an sich. Aus Spaniens Gesellschaft, Geschichte und Zukunft. Das ist auch ein großartiges Erbe.

klassik-begeistert: Hat man in Madrid besondere Erwartungen, was die Repertoirepflege betrifft? Oder haben Sie weitestgehend Carte Blanche?

Kent Nagano: Carte Blanche so definiert, dass ich tun und lassen kann, was ich möchte? Nein. Wenn Carte Blanche aber die Freiheit meint, meine Kreativität und Phantasie verantwortungsvoll für die Verwirklichung einer gemeinsamen Vision einzusetzen, dann lautet die Antwort JA. Bereits am Beginn der Vertragsgespräche stand ein intensiver Austausch zu meinen Ideen und Perspektiven. So haben wir gemeinsam kulturelle und künstlerische Prioritäten gesetzt.

klassik-begeistert: Das 1988 eröffnete Auditorio Nacional de Música in Madrid sieht von außen wenig spektakulär aus. Das Gegenteil der Elbphilharmonie, könnte man sagen. Der Konzertsaal hat es aber vermutlich umso mehr in sich. Wie ist dort um die Akustik bestellt?

Kent Nagano: Die Akustik des Saals ist international anerkannt und zählt zu den besten der Welt.

klassik-begeistert: Worauf freuen Sie sich ganz besonders in Madrid?

Kent Nagano: Auf so vieles! Die Energie, den Optimismus, das Engagement, die Traditionen der Spanier. Auf die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Literatur. Außerdem auf  das kulturelle Erbe und dessen Institutionen für bildende und darstellende Kunst.

klassik-begeistert: Liegt Ihnen das spanische Temperament? Leidenschaft passt natürlich bestens zu einem Orchester. Aber man sagt ja, die Spanier kämen gerne mal eine halbe Stunde später, als im Kalender steht. Ein anderes Klischee lautet, die Spanier sprächen ziemlich laut. Sie dagegen lieben die leisen Töne und die Stille… Braucht es vor der ersten  Orchesterprobe ein klärendes Gespräch?

M. Nagano et Mme Kodama © Privat

Kent Nagano:  Von diesen Vorurteilen habe ich auch gehört… Für das heutige Spanien sind dagegen Pünktlichkeit, Präzision und Höflichkeit repräsentativ. Das gilt im Berufsleben und selbst für Züge, Fluggesellschaften und öffentliche Verkehrsmittel [lacht]. Die Konzerte starten auch pünktlich…

klassik-begeistert: Aber Fiesta und Siesta, die Synonyme für spanische Lebensfreude. Das findet man noch in Madrid?

Kent Nagano:  Alles in Madrid vermittelt eine gewisse Lebensfreude. Das Essen, der Wein, die  Meeresfrüchte, die farbenfrohe mediterrane Küche bis hin zum Iberischen Schinken. Alles außergewöhnlich, wie ich betonen möchte.

klassik-begeistert: ¡Salud! Und herzlichen Dank für das Gespräch!

Jörn Schmidt, 10. September 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Interview: kb im Gespräch mit Kent Nagano, Teil I klassik-begeistert.de, 8. September 2025

Interview: kb im Gespräch mit Kent Nagano, Teil II klassik-begeistert.de, 9. September 2025

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