Meine Lieblingsmusik: J.S. Bachs umfangreiches Vokalwerk nimmt auch im Internet einen bedeutenden Rang ein

Meine Lieblingsmusik: J.S. Bachs umfangreiches Vokalwerk  klassik-begeistert.de, 24. Oktober 2025

Von Elias Gottlob Haußmann – http://www.jsbach.net/bass/elements/bach-hausmann.jpg, Gemeinfrei

von Dr. Lorenz Kerscher

Weit über 200 Kantaten hat Bach komponiert, dazu die sechs zum beliebten Weihnachtsoratorium zusammengefassten, das Osteroratorium, zwei Passionen, die h-moll-Messe sowie einige kleinere Messen. Hinzu kommen etliche Motetten und noch einiges mehr an kleineren Solo- und Chorgesängen. Gedacht war das alles für den Augenblick der Verkündigung christlicher Botschaft im Gottesdienst oder auch zur Verschönerung des ein oder anderen weltlichen Anlasses. Doch dass dieser gesamte Schatz 400 Jahre später der ganzen Menschheit jederzeit zur Verfügung stehen würde, ist dem begnadeten Tonschöpfer wohl kaum in den Sinn gekommen. Eher vermute ich, dass er in dem Bewusstsein lebte, sein Wirken sei nur auf seine Zeit beschränkt.

Die technischen Möglichkeiten, hochwertige Ton- und später auch Videoaufnahmen herzustellen und in die ganze Welt zu übertragen, konnte im 18. Jahrhundert noch niemand vorhersehen. Und noch vor 50 Jahren schien es unvorstellbar, dass es ein Medium geben könnte, mit dem man sich jeden noch so ausgefallenen Hörwunsch auf der Stelle erfüllen kann. Damals schrieb mein Schwiegervater die Rundfunksender an und bat um Übertragung ihn interessierender Werke, um sie dann auf Tonband aufzunehmen. Und heute suche ich einfach in YouTube nach z.B.: „BWV 140“ und habe nur noch die Qual der Wahl unter hochwertigen Videoaufnahmen von einem halben Dutzend exzellenter Ensembles.

Da ist die Aufnahme der „Stiftsmusik Stuttgart“ mit dem „Solistenensemble Stimmkunst“ unter der Leitung von Kay Johannsen ein guter Griff. Er hat mit dieser Besetzung oder, wenn angebracht, auch mit dem großem Chor der Stuttgarter Kantorei seit 2011 in dem Konzertzyklus „Bach : vokal“ sämtliche Vokalwerke Bachs aufgeführt. Den Plan, dies innerhalb von 10 Jahren zu bewerkstelligen, konnte er wegen der Corona-Pandemie nicht ganz einhalten, kam aber 2022 zum Abschluss. Zahlreiche Ausschnitte sowie auch etliche komplette Aufnahmen finden sich auf seinem YouTube-Kanal.

„Wachet auf, ruft uns die Stimme“ zählt zu den bekanntesten Kantaten von Bach und fasziniert mit der Aufbruchsstimmung des Eingangschors und den zärtlichen Duetten von Sopran und Bass, die die Seele im Sinne des zugrundeliegenden Gleichnisses als Braut Christi  darstellen. Das „Solistenensemble Stimmkunst“ besteht aus vier Mitwirkenden pro Stimmgruppe, die auch abwechselnd die solistischen Aufgaben übernehmen. Gespielt wird auf Originalklanginstrumenten, wobei hier Christine Busch, Violine, und Saskia Fikentscher, Oboe, mit ausdrucksvollen Soli zu den Duetten herausragen. So gelingt es sehr wirkungsvoll, einen großen Bogen über die drei sehr unterschiedlich gestalteten Choralstrophen und die heitere Zuversicht der Duette zu spannen.

Ebenfalls sehr hoch gehalten wird Bachs Kantatenwerk von der Nederlandse Bachvereniging, die eine Playlist von 100 vollständig aufgenommenen Kantaten anbietet. Jos van Veldhoven leitete dieses schon seit über 100 Jahren bestehende Ensemble 35 Jahre lang, bis er es 2018 an den vorherigen Konzertmeister Shunske Sato übergab. Der Originalklang wird mit solcher Konsequenz gepflegt, dass auch die Altpartien mit männlichen Solisten besetzt werden. Ungewöhnlich ist die Aufstellung von drei unterschiedlich platzierten Vokalquartetten, deren besonderen Raumklang in Verbindung mit der großen Orgel man in den Videoaufnahmen durchaus erahnen kann.

Nehmen wir zum Beispiel diese festliche Pfingstkantate, an deren Beginn schon einmal die Barocktrompeten durch herausragende Präzision und Klarheit überzeugen und in bester Balance mit dem Klang der Oboen, Flöten und Streicher verschmelzen. Der kunstvolle Eingangschor wird durch aus verschiedenen Richtungen erklingende solistische Passagen belebt und bildet ein klangliches Abbild der durchdringenden himmlischen Flammen, von denen der Text handelt. Zwischen zwei Rezitativen verströmt dann die vom Altus gesungene zentrale Arie wohlklingende Zuversicht, und der Schlusschor überwältigt mit festlichen Klängen. So erweist sich die Nederlandse Bachvereniging als eine erstklassige Anlaufstelle für jeden, der sich das Bach’sche Kantatenwerk erschließen will.

Doch aller guten Dinge sind drei, und es lohnt sich unbedingt, die J.S. Bach-Stiftung St.Gallen auf dem Radar zu haben! Unter der künstlerischen Leitung von Rudolf Lutz und mit herausragenden Instrumental- und Gesangssolisten hat diese das Ziel, bis zum Jahr 2027 sämtliche Vokalwerke von Bach aufzuführen und als Videoaufnahmen verfügbar zu machen. Hinzu kommen noch einführende Workshops und Reflexionen über den Kantatentext sowie vielseitige Hintergrundinformation auf der Webseite Bachipedia. Auf dem YouTube-Kanal der Bachstiftung findet man schon eine fast vollständige Sammlung von allem Singbaren aus der Feder Bachs sowie ausführliche Zusatzinformation. Auch dieses Projekt ist dem Originalklang verpflichtet und hat hervorragende Instrumental- und Gesangssolisten zur Verfügung. Und als besonderen Service bieten die meisten Aufnahmen auch Untertitel in verschiedenen Sprachen.

https://www.youtube.com/watch?v=ggPuYK2EPZI      ( Video einbinden )

J.S. Bach – Kantate BWV 19 „Es erhub sich ein Streit“ (J.S. Bach-Stiftung)

Ich greife hier diese Kantate heraus, mit der der Triumph des Erzengels Michael über den Höllendrachen gefeiert wird. Rudolf Lutz lässt schon im lebhaften Eingangschor siegreichen Kampfeswillen zur Wirkung kommen. Ganz kammermusikalisch geht es nach kurzem Rezitativ des Basses weiter mit einem Wechselspiel von sehr gut textverständlicher Sopranstimme und zwei klangvollen Oboen d’amore. Im warmen Streicherklang gebettet und zu einer von der Trompete als leise Vorahnung angestimmten Choralmelodie erfleht dann der Tenor den Beistand der Engel. Ein kurzes Sopranrezitativ leitet schließlich zu dem in festlicher Pracht erklingenden Schlusschoral hin. Sopranistin Julia Doyle und Tenor Georg Poplutz dokumentieren, welch hervorragende Solisten die Bachstiftung zur Verfügung hat. Insgesamt wird ein Niveau erreicht, dem ich unbedingt das Prädikat „Referenzaufnahme“ zuweisen würde.

Hervorragende Aufnahmen verdanken wir auch zahlreichen weiteren Barockensembles, die, auch ohne das Ziel einer Gesamtschau der Vokalwerke Bachs zu verfolgen, mit Interpretationen auf höchstem Niveau überzeugen. In jedem Fall aber ist heute das Spiel mit Originalklanginstrumenten unangefochtener Standard. Und in aller Regel haben die Ausführenden das Können, um dem anspruchsvollen Klanggewebe des Thomaskantors gerecht zu werden. Während sich der fromme Tonschöpfer wohl nichts anderes als die Unsterblichkeit seiner Seele erhofft hat, wird diese nun seinem unvergleichlichen Werk zuteil, zumindest innerhalb einer für uns vorstellbaren Zeitdimension. Dass das Internet nichts vergisst, macht uns manchmal etwas Angst, doch für die Pflege unseres kulturellen Erbes ist das auch ein Segen!

Dr. Lorenz Kerscher, 24. Oktober 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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