„Die Tränen, die wir nicht weinen, fallen alle in unsere Seele zurück“: Massenets „Werther“ ist ein „drame lyrique“ in Bestform

Jules Massenet, Werther  Oldenburgisches Staatstheater, 8. November 2025, PREMIERE

Foto: Werther Oldenburg (c) Stephan Walzl

Mal ehrlich – würden Sie einen freien Abend eher mit der Lektüre von Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ oder dem Besuch einer gelungenen Inszenierung von Jules Massenets Opernadaption verbringen? Na also – so funktioniert Rezeption. Die französisch-romantische Interpretation eines deutschen „Sturm und Drang“-Werks präsentierte in bewährt überzeugender Qualität das Staatstheater Oldenburg am 8. November 2025.

Oldenburgisches Staatstheater, Großes Haus, 8. November 2025, PREMIERE

Jules Massenet, Werther

Vito Cristofaro, Dirigent

Paride Cataldo, Tenor
Anna Dowsley, Mezzosopran
Arthur Bruce, Bariton
Seungwon Lee, Bass
Seumas Begg, Tenor
Irakli Atanelishvili, Bass

Kinder- und Jugendchor des Oldenburgischen Staatstheaters
Oldenburgisches Staatsorchester

Kai Anne Schuhmacher, Inszenierung

von Dr. Andreas Ströbl

Hat sich Massenet an deutschem Kulturgut „vergriffen“?

Die Diskussion, ob der deutsche Nationalheilige Goethe durch die musikalische Verarbeitung von Komponisten aus dem Erzfeind-Nachbarland Schaden nehmen könnte, ist so alt und grau wie der Bart Friedrich Wilhelms I. auf dem Gemälde „Die Proklamierung des deutschen Kaiserreiches“ von Anton von Werner.
Dafür, dass Massenet nur 21 Jahre nach Reichsgründung im Versailler Spiegelsaal sich mit Liebe und psychologischem Gespür dem deutschen Zentral-Literaten zugewandt hat, mag man ihn einfach nur umarmen. Berlioz, Gounod, Dukas und eben Massenet – die haben Goethes Figuren hör- und erlebbar mit Leben gefüllt, während bei uns die Denkmäler Staub und Taubenkot ansetzten. Man würde sich allerdings kaum wundern, wenn das bronzene Paar Goethe und Schiller in Weimar demnächst von seinem Sockel stiege und aus dem Höcke-Land auswanderte, um den nächsten Zug nach Paris zu nehmen.

Zugegeben: Ob die durch Wiederholung nicht origineller werdenden stumpfsinnigen Saufgesänge des Amtmanns und seiner Freunde Schmidt und Johann unbedingt nötig gewesen wären, darüber mag man streiten. Auch kann man das „Noël“-Gesinge des Kinderchores als enervierend empfinden, aber das ist eben der vom Komponisten bewusst gesetzte kindlich-lebensfrohe Gegenpol zur Liebes- und Suizidtragik, die dieses „drame lyrique“ in all seiner seelischen Tiefe und packenden Personenkonstellation so intensiv und eindringlich macht. „Vergriffen“ hat er sich aus heutiger Sicht keinesfalls, wie Dramaturgin Antje Müller in der Premieren-Einführung klar herausstellte. Massenet sah sich genötigt, das Personal des Originals zu erweitern, um das Ganze operntauglich zu machen.

Werther Oldenburg (c) Stephan Walzl

Sein größtes Verdienst ist aber die psychologische Weit- und Tiefsicht in der atmosphärischen Dichte und des Ausdrucks emotionaler Extremsituationen durch seine phantastische Musik. Eine der stärksten Stellen im Libretto von Édouard Blau, Paul Milliet und Georges Hartmann ist sicher die Erkenntnis Charlottes, „Die Tränen, die wir nicht weinen, fallen alle in unsere Seele zurück und hämmern mit ihren steten Tropfen auf das traurige und müde Herz!“ Dass nicht zugelassene Gefühle zu psychischen Erkrankungen führen können, ist in der breiten Masse doch erst ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts angekommen. Massenet mit seinem „Werther“ war seiner Zeit da weit voraus.

Ein Spiel mit Öffnung und klaustrophobischer Enge

Regisseurin Kai Anne Schuhmacher und Bühnenbildnerin Dominique Wiesbauer haben sich für eine reduktionistische Darstellung der Aktionsräume entschieden. Es gibt eine dominante Spiegelwand mit kreisrundem Ausschnitt im Zentrum, der sich mal hebt und senkt; in Einzelszenen dient er auch als Spielfläche. Zuweilen scheint durch dieses Loch ein riesiger Vollmond, wohl als Symbol des Nächtlichen (Novalis´ „Hymnen an die Nacht“ lassen grüßen) oder auch der – wissenschaftlich erwiesen oder nicht – inneren Unruhe der Hauptpersonen.

Werther Oldenburg (c) Stephan Walzl

Die große Wand selbst verändert häufig ihren Winkel und ihre Höhe. In der Briefszene im dritten Akt senkt sie sich erdrückend auf Charlotte und Werther, was eine klaustrophobische Beklemmung schafft. Die beiden, so entsteht der Eindruck, können kaum atmen und kommen aus der Enge ihrer inneren Bedrückung nicht heraus. Mit sparsamen Mitteln wird so ein ungeheuer eindrucksvolles Seelenbild geschaffen.

Zunehmend fällt ein Regen aus kleinen rotbraunen Bröckchen auf die unter dem zentralen Loch stehenden Personen, unerbittlich wie die Lapilli in Pompeij, die stetig alles ersticken, was darunter noch zu leben vermochte. Es ist schließlich ein großer Haufen, aus dem Charlotte die Briefe Werthers und die Ossian-Texte ausgräbt.

Bewusster Bruch durch knallige Kostüme

Valerie Hirschmann hat sich ganz absichtlich durch übertrieben alberne und knallbunte Kostüme für eine ironische Brechung entschieden. Zudem sind Schmidt und Johann als Schicksalsfiguren gezeichnet, die wie zwei Chronos-Clowns mit Papp-Flügelchen über die Geschicke der Menschen entscheiden. Vom Ansatz her ist das sehr interessant, denn sie spielen wie Kartenbrüder in der Kneipe um Leben und Tod. Soll es Charlotte treffen, die eigentliche Zentralperson der Oper, die das Drama vorantreibt und viel aktiver als bei Goethe auftritt? Oder Albert, der zwar solide, aber langweilig ist? Nein, auf Werther fällt die Wahl der beiden, die, Seumas Begg als Schmidt mit Sockenhaltern, Irakli Atanelishvili mit heraushängendem Schmerbauch, ein bisschen an Dick und Doof-Karikaturen erinnern. Spielerisch sind sie echte Komödianten, aber gerade im emotional ergreifenden dritten Akt mit der hinreißenden Zwischenmusik sind diese Figuren zumindest Geschmackssache.

Werther Oldenburg (c) Stephan Walzl

Auch Andreas Lüthje als Brühlmann und Daniela Köhler in der Rolle des Käthchens scheinen einem Helge Schneider-Film entsprungen zu sein. Klar, das ist gewollt, aber man kann in der Kostümierung mit Perücken und karierten, kurzhosigen Anzügen niemanden davon ernstnehmen. Das gilt auch für Seungweon Lee als Amtmann, der am Ende wie eine Art Weihnachts-Yeti auftritt, und den Albert von Arthur Bruce – ebenfalls grellkariert.

Beide legen allerdings einwandfreie Leistungen hin, zumal der Bariton Bruce. Es fällt hier eben sehr leicht, den Verlobten von vornherein als höchstens zweite Wahl wahrzunehmen.

Werther Oldenburg (c) Stephan Walzl

Gleiches gilt für Stephanie Hershaw, die eine beabsichtigt zu bunte, aber spielerisch hockaktive Sophie gibt.

Brillante Solisten in den Hauptpartien und ein phantastisches Orchester

Wieder einmal hat es das Oldenburger Staatstheater geschafft, eine große Oper fast ausnahmslos durch das Hausensemble zu bestreiten. Einziger Gast ist Paride Cataldo in der Titelrolle. Der Tenor bringt mit Innigkeit, Kraft und einer mühelosen Selbstverständlichkeit auch in den höchsten Lagen all die Leidenschaft, die seelischen Schmerzen und die Verzweiflung zum Ausdruck, die diese Rolle braucht. Das stilbildende Blau und Gelb der Werther-Tracht werden in seinem Kostüm zeitweise aufgegriffen. Seine Darstellung lässt niemanden kalt, er gibt dem Werther Tiefe und emotionale Wärme; auch in den Piano-Partien ist er jederzeit präsent.

Tenor Paride Cataldo (Werther) und die Mezzosopranistin Anna Dowsley (Charlotte)

Die Interaktion mit Charlotte ist absolut überzeugend, wie überhaupt die ganze Bewegungs- und Personenregie in dieser Produktion. Dem Gegenstand seiner Liebe, Charlotte, gibt Anna Dowsley ergreifende Gestalt; spielerisch und stimmlich leistet sie Herausragendes. Es gibt keinen Ton, den sie nicht mit Stärke und natürlicher Haltung in den Saal entließe. Die Mezzosopranistin kann sogar in den Bühnenhintergrund singen und dennoch erreicht jede Note das faszinierte Publikum. Ihrer Verletzlichkeit, unterstrichen durch das weiße Hemdchen wie beim Sterntaler-Mädchen, verleiht sie einen Ausdruck, dem man sich nicht entziehen kann.

Charlotte ist bekanntlich die erwachsene Schwester sehr vieler Kinder und diese muntere Schar spielt und singt der Kinder- und Jugendchor des Oldenburgischen Staatstheaters unter Leitung von Marija Jokovic. Was die Kleinen und etwas Größeren da leisten, ist makellos; ihr Gesang ist in jedem Wort synchron und schlichtweg von ausgesprochen schönem Klang.

Werther Oldenburg (c) Stephan Walzl

Nicht nur schön, sondern wuchtig, mitreißend, dann wieder sanft und innig spielt das Oldenburgische Staatsorchesterunter Vito Cristofaro. Bereits die Ouvertüre verschafft Gänsehaut-Momente. Eine schöne Geste ist der Dank des engagierten Dirigenten an die Orchestersolisten beim Schlussapplaus – gerade Erste Geige und Cello spielen meisterhaft und von größter Finesse; gleiches gilt für Holzbläser und Harfe. Aber es ist klar – das ganze Orchester ist, zumal in dieser Qualität, eine der Hauptpersonen in Massenets „Werther“.

Der begeisterte Beifall setzt sich auf der Premierenfeier fort; das Oldenburger Publikum feiert zu Recht einen großen Opernabend!

Die nächsten Aufführungen sind am 15 und 28. November sowie am 3., 11. und 30. Dezember. Ein Tip assoziativ zum „Noël“-Gesang der Kinder: Ein prima Nikolausgeschenk in der Vorbereitung auf Weihnachten wäre eine Karte für den Oldenburger „Werther“!

Dr. Andreas Ströbl, 9. November 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Leoš Janáček, Das schlaue Füchslein Oldenburgisches Staatstheater, 24. Oktober 2025

Musikfest Bremen: „The Dragon of Wantley“ Oldenburgisches Staatstheater, 24. August 2025

Jules Massenet, Werther Konzertante Premiere an der Deutschen Oper Berlin, 23. Juli 2025

Jules Massenet, Werther Opéra Royal de Wallonie-Liège, 19. April 2025

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