© hr/Sebastian Reimold
Johannes Brahms
Violinkonzert D-Dur op. 77
Anton Bruckner
Sinfonie Nr. 9 d-moll
Leonidas Kavakos, Violine
hr-Sinfonieorchester
Manfred Honeck, musikalische Leitung
Alte Oper Frankfurt, 14. November 2025
von Dirk Schauß
Der 14. November in der Alten Oper war ein Abend, an dem sich zwei musikalische Welten begegneten: Brahms in seiner strukturellen Strenge und spätromantischen Wärme, Bruckner in seiner metaphysischen Wucht. Beide Werke leben von Sachlichkeit und Hingabe zugleich – Qualitäten, die Manfred Honeck und Leonidas Kavakos in aller Konsequenz verkörperten. Wenn ein Dirigent dieser Erfahrung beim hr-Sinfonieorchester gastiert, entsteht häufig etwas Besonderes. Doch dieses Konzert war mehr als nur besonders. Es war ein Abend, an dem Interpretationen gewachsen wirkten, als hätten sie sich im Laufe eines langen Weges verfeinert, verdichtet, gelichtet – und genau deshalb trafen sie so unmittelbar ins Zentrum des Erlebens.
Schon der orchestrale Auftakt des Violinkonzerts kündigte an, dass Honeck Brahms nicht als romantische Geste versteht, sondern als klar geformtes, differenziert artikuliertes Gefüge. Die Einleitung wirkte zugleich federnd und gespannt, mit sauber gebauten Mittelstimmen. Bratschen und Fagotte traten mit einer Klarheit hervor, die sofort das Klangfundament stärkte. Die Hörner führten ihre Phrasen mit einem geraden, kontrollierten Ton, der sich ideal in das Gesamtbild fügte. Nichts drängte sich vor, alles war geladen.
Als Kavakos völlig unprätentiös einsetzte, entstand der Eindruck eines Eintritts in ein bereits atmendes Gespräch. Seine „Willemotte“-Stradivari von 1734 füllte den Raum nicht mit auftrumpfendem Glanz, sondern mit einer biegsamen Präsenz, die jede Phrase mit höchster Genauigkeit modellierte. Die Intonation saß fest, doch nicht klinisch; sie trug die Farbe des Moments. Besonders bemerkenswert war der Umgang mit den synkopierten Phrasen im ersten Satz: Kavakos reduzierte den Bogendruck minimal, sodass die Linien eine Beweglichkeit bekamen, die dem Satz eine unaufdringliche Energie verlieh. Er erzählte…
Vor der Kadenz nahm er den Klang zurück, als würde er tatsächlich dem Orchester zuhören, bevor er übernimmt. Diese Art musikalischer Höflichkeit und Reife ist selten geworden. Die Kadenz selbst spielte er mit einer zwingenden Logik, als entfalte sich der formale Schwerpunkt nicht aus Virtuosität, sondern aus innerer Notwendigkeit.

Der zweite Satz war ohne Frage einer der eindrücklichsten Momente des Abends. Die Oboe eröffnete mit einem Ton, der keinerlei unnötige Breite zeigte, sondern eine kammermusikalische Präzision, die von den übrigen Holzbläsern weiter getragen wurde. Honeck gewährte Raum – gerade so viel, dass die Phrasen selbstverständlich wirken konnten. Kavakos antwortete mit lyrischer Klarheit, die nicht aus Schwere, sondern aus Reduktion entstand. Sein Pianissimo hatte jene Intensität, die keinen Zwang kennt, sondern nur Konzentration.
Die Streicher bildeten einen warmen, klar umrissenen Untergrund, auf dem die Solovioline förmlich zu schweben schien. Die Dialoge zwischen Holzbläsern und Solist wirkten wie fein austarierte Nachfragen und Erwiderungen. Man fühlte sich in ein intimes Gespräch versetzt, ohne jeden Kunstnebel.
Das Rondo gelang mit jener rhythmischen Genauigkeit, die nur möglich ist, wenn Dirigent und Solist denselben Puls atmen. Kavakos spielte mit einer Leichtigkeit, die niemals ins Zurschaustellen kippte. Er schien entschlossen, jedem Ton seine eigene Geste zu geben, statt ihn als Teil einer schnellen Passage zu opfern. Das hr-Sinfonieorchester folgte Honecks energischer, aber nie drängender Zeichengebung mit beeindruckender Verlässlichkeit. Die Pauke trat markant, doch nie brachial hervor. Das Blech blieb strahlend, aber kontrolliert. Das Finale wurde zu einem echten Tanz – nicht volkstümlich, sondern präzise strukturiert. Der intensive Jubel nach dem letzten Akkord war nicht höflich, sondern eruptiv und lange andauernd.
Kavakos’ Zugabe, ein Bach-Satz, wirkte wie ein leiser Dank an den Saal: konzentriert, empfindsam, ohne Sentimentalität und herrlich klingend auf diesem besonderen Instrument.

Nach der Pause begann jenes Werk, das Honeck seit vielen Jahren begleitet: Bruckners Neunte. Man merkte vom ersten Ton an, dass hier ein Dirigent am Werk war, der diese Partitur nicht nur kennt, sondern verinnerlicht hat.
Der Beginn: tief gestaffelte Celli und Kontrabässe, deren Ton absolut geschlossen stand. Die darüberliegenden Tremoli der Violinen wirkten nicht weich, sondern kontrolliert und vibrierend vor Spannung. Man hatte den Eindruck, dass Honeck die Architektur dieses Satzes aus einem inneren, körperlichen Gefühl heraus formte. Nichts wurde gemacht, alles entstand. Die Steigerungen waren keine Extravaganzen, sondern wuchsen aus sich heraus. Die Bläser legten in den Übergängen eine Wärme an den Tag, die den Klang des Orchesters rundete, ohne ihn zu beschweren.
Der Satz kann auseinanderfallen, wenn man seine dramaturgische Spannung nicht hält. Honeck hielt sie mit einer Ruhe, die aus Erfahrung erwächst, nicht aus Routine. Die vielen Abschnitte, die zwischen hell und dunkel kontrastieren, gerieten faszinierend eindringlich. Ein unwiderstehlicher Sog. Die Coda, mit ihrem strahlenden Blech, traf mit einer Kraft, die elektrisierte und überwältigte.

Das Scherzo dirigierte Honeck mit Tempo, Schärfe und absoluter Präzision im Rhythmus. Die Streicher griffen beherzt zu, die punktierten Rhythmen hatten Biss, die Blechakzente saßen punktgenau. Die Pauke tanzte und die Dissonanzen durften infernalisch dröhnen. Das Trio kam wie ein kurzer Lichtwechsel: schattenhaft, wendiger, aber nie weich. Es blieb eine irritierende Zwischenwelt – ein kurzes Abgleiten in eine andere Stimmung, bevor das Scherzo erneut mit seiner unerbittlichen Energie einsetzte.
Mit den ersten Takten des Adagios geriet der Saal in einen Zustand konzentrierter Stille, der eher an einen inneren sakralen Raum erinnerte als an einen Konzertsaal. Honeck formte die Melodieverläufe der Violinen so klar, dass jede Phrase wie eine auskomponierte Atembewegung wirkte. Nichts wurde gedehnt, nichts sentimentalisiert; stattdessen entwickelte sich ein Kontinuum aus Tragfähigkeit und Verwundbarkeit. Die Tiefen des Orchesters glänzten nicht, sie trugen. Die Hörner und Tuben legten ihre Stimmen mit einer entwaffnenden Ruhe in den Gesamtklang, während die Holzbläser jene unverwechselbare, von innen aufleuchtende Farbe beitrugen, die Honecks Bruckner so charakterisiert.
Besonders eindrücklich waren die Übergänge zwischen den aufsteigenden Lichtgesten der Streicher und den unmittelbar darauf folgenden Abbrüchen in die harmonische Erdenschwere. Honeck akzentuierte diese Brüche nicht mit Gewalt, sondern mit dem Mut zum Innehalten – er ließ die Spannung in der Pause entstehen, nicht im Klang. Die Posaunen und Tuba traten so kontrolliert hervor, dass ihr Gewicht die Architektur stabilisierte, ohne sie zu erdrücken. Die Pauke setzte punktgenaue Akzente, die eher wie Markierungen im Raum wirkten als wie dramatische Signale.

Die große Dissonanz – Bruckners Schnitt durch die menschliche Fassungskraft – baute Honeck in einer Konsequenz auf, die die Luft im Saal förmlich verengte. Und genau in dem Moment, in dem sich diese Spannung in die schwerste Stille des Abends entlud, geschah etwas, das niemand im Saal wieder vergessen wird: Ein Telefon klingelte. Schrill, penetrant, aus einer anderen Welt kommend. Für einen Moment hatte man das Gefühl, als sei eine Figur aus dem Scherzo – dieser dämonische, scharf konturierte Geist mit seinen rhythmischen Attacken – plötzlich in das Adagio gesprungen und mache sich über die sakrale Ruhe lustig. Ein Einbruch des Diesseits, der absurder nicht hätte sein können. Ein einziger Ton, der die fragile Schwebe dieses Satzes attackierte wie eine Störung von außen, die man in Bruckners metaphysischem Raum nie erwartet.
Umso bemerkenswerter war Honecks Reaktion: Er blieb unbeweglich, konzentriert, als würde er den Störton nicht hören. Diese stoische Haltung wirkte wie ein Schutzschild für das gesamte Orchester. Die Musiker nahmen die Spannung wieder auf, als handle es sich um eine zusätzliche Zäsur, die es zu bewältigen galt. Die folgenden Hornkadenzen wirkten dadurch eigenartig erhoben – nicht verklärt, sondern gestärkt durch Widerstand. Und als der Schluss über den gedämpften Streichern langsam in den Raum sank, war die Atmosphäre so konzentriert, dass selbst ein Räuspern undenkbar erschien.
Der letzte Akkord stand wie eine Grenze: nicht triumphal, nicht tröstend, sondern offen. Honeck hielt die Hände lange oben, und die Stille nach dem Schluss war eines jener raren Ereignisse, in denen ein Publikum nicht weiß, wie es zurück in die Realität finden soll. Erst nach Sekunden, die sich wie eine eigene Zeit anfühlten, setzte der Applaus ein – heftig, unmittelbar, erschöpft vor Dankbarkeit.

Man hat an diesem Abend erlebt, warum Manfred Honeck weltweit zu den herausragenden Bruckner-Interpreten zählt. Es ging nicht um Effekte, nicht um Monumentalität um ihrer selbst willen, sondern um eine tief analysierte, aus Erfahrung modellierte, emotional kompromisslose Lesart. Honeck arbeitet mit einem Orchester so, wie ein Architekt mit Licht arbeitet: Er öffnet Räume, schafft Blickachsen, verdichtet Schichten, zeigt Übergänge, die man zuvor nicht wahrgenommen hat. Das hr-Sinfonieorchester reagierte auf diese Handschrift mit einer Hingabe, die alle Register der eigenen Qualität offenbarte – vom strahlenden Blech über die disziplinierten, präzise artikulierenden Streicher bis zu den Holzbläsern, die an diesem Abend eine Klasse zeigten, die jedes internationale Podium schmücken würde.
Die Kombination aus Kavakos’ klanglicher Integrität im Brahms-Konzert und Honecks gestaltender Kraft in Bruckners Neunter ergab ein Konzert, bei dem man spürte, wie sich künstlerische Erfahrung, intellektuelle Durchdringung und emotionale Wahrhaftigkeit gegenseitig potenzieren. Es war ein Abend, an dem Musik nicht interpretiert, sondern existiert hat. Und genau solche Abende bleiben im Gedächtnis – als ganz besondere Markierungen einer Saison, ja vielleicht sogar eines Jahrzehnts.
Dirk Schauß, 15. November 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Concertgebouworkest, Manfred Honeck, Dirigent Concertgebouw, Amsterdam, 9. Februar 2025