Riccardo Muti studiert mit dem Nachwuchs akribisch „Don Giovanni“

Opernakademie in der Fondazione Prada in Mailand (19.-30.11.)  Fondazione Prada in Mailand 19.-30.11.2025

Photo ©Riccardo Muti Music, RMM

Es ist immer wieder ungemein lehrreich und bereichernd, Riccardo Muti beim intensiven, akribischen Proben einer Oper mit dem Nachwuchs zu erleben.

Vor zehn Jahren hat der Maestro, dem es ein sehr wichtiges Anliegen ist, seinen reichen, über 55 Jahre gewachsenen Erfahrungsschatz weiterzugeben, seine italienische Opernakademie in Ravenna gegründet. Zum dritten Mal fand die Akademie nun – nach mehreren Abstechern in Japan und im vergangenen Jahr erstmals in China – in der Fondazione Prada in Mailand statt.

Opernakademie in der Fondazione Prada in Mailand (19.-30.11.25)

von Kirsten Liese

Zehn Tage lang wurde diesmal „Don Giovanni“, Mozarts zweite Gemeinschaftsarbeit mit dem Librettisten Lorenzo da Ponte, einstudiert.

Mutis stellt hohe Ansprüche an alle Beteiligten, insbesondere an sein Orchestra Giovanile Luigi Cherubini, 2005 gegründet, das seine Mitglieder auf den Beruf des Orchestermusikers vorbereitet. Erst kürzlich gab es zahlreiche Wechsel an den Pulten, viele Musiker spielen die Oper zum allerersten Mal wie auch die Konzertmeisterin Francesca Azzollini, die erst seit Oktober dabei ist.

Das richtige Verständnis von Korrepetition

Der Unterricht beginnt aber an den Vormittagen stets am Klavier. Das Verständnis von Korrepetition, die so anderswo kaum noch angeboten wird, habe sich stark verändert, seit sein Lehrer Antonino Votto in den 1950er und 1960er Jahren an der Scala die Orchesterproben vorbereitete, sagt Muti. Jedenfalls erfahren die Junioren, dass es mitnichten darum geht, den Klavierauszug in virtuoser Perfektion darzubieten wie ein Stück von Chopin. Die Hauptaufgabe liegt vielmehr darin, den Sängern eine Vorstellung vom jeweiligen Klang und Ausdruck einzelner Arien und Ensembles zu vermitteln, und zwar in unmittelbarer Abstimmung mit dem Text.

Riccardo Muti – ein Energiebündel und wandelndes Lexikon

Damit sind die Hauptaspekte in Mutis facettenreichem Unterricht genannt: Klang, Ausdruck und Theatralik.

Mutis ungebrochen phänomenale Leistungsfähigkeit beeindruckt. Im stolzen Alter von 84 Jahren sprüht er vor Energie. Er singt oder macht vor, wie etwas sein soll, parodiert schlechte Angewohnheiten, analysiert akribisch Arien und Ensembleszenen –  streckenweise Takt für Takt –, nimmt schwierige Übergänge und schlagtechnische Details unter die Lupe, unternimmt lehrreiche Exkurse in Musik- und Aufführungsgeschichte und würzt seine Lektionen mit lustigen Anekdoten und kleinen Scherzen. Ob das Tempo zu langsam ist, die Musik einen größeren Sturm erfordert, Instrumente nicht exakt zusammenspielen oder Vortragsbezeichnungen wie die für Mozart so wichtigen Fortepiano übersehen werden – seinen wachsamen Augen und Ohren entgeht nichts.

Und so durfte ich, wiewohl mit „Don Giovanni“ gut vertraut, allerhand aufschlussreiche Details dazulernen: Zum Beispiel, dass es von einem falschen Verständnis zeugt, wenn Leporello die letzte Phrase in seiner Registerarie in der dritten Wiederholung lasziv summt, wie oft zu hören, da eine solche Vortragsart nicht dazu passt, dass er Donna Elvira eher grausam in dieser Arie begegnet, weit davon entfernt, sie verführen zu wollen oder komisch zu gerieren.

Geniale Details

An anderer Stelle im Quartett des ersten Akts werde ich mir der bislang unbemerkten Genialität zweier schlichter Takte bewusst: „Forse si calmerà“, (Vielleicht wird sie sich beruhigen), singt da Don Giovanni in Bezug auf Donna Elvira, die gerade Donna Anna und Don Ottavio vor ihm als einem üblen Verräter warnen wollte. Das erste Mal singt er die kurze Phrase bestimmt, in der Wiederholung zweifelhafter.

Und wer hat schon gewusst, dass Leporellos kurzer Ausruf im Finale „Bravi! Cosa rara“ auf die gleichnamige, zu seinen Lebzeiten sehr beliebte Oper „Una cosa rara“ des spanischen Komponisten Martín y Soler anspielt, aus der Mozart ein paar Takte zitiert.

Starke Persönlichkeiten unter den Junioren

Unter den neun jungen Dirigenten aus China, Südkorea, Polen, Deutschland, Italien und Rumänien, darunter drei Frauen, weckt in diesem Jahr besonders Alma Deutscher meine Aufmerksamkeit, die jüngste aktive Teilnehmerin in Mailand. In der Regel wecken ja sogenannte Wunderkinder, zu dem sie von Zubin Mehta und Simon Rattle deklariert wurde, meine Skepsis, so wie sie zwar oftmals in stupender Perfektion etwas darbieten, aber doch ohne die nötige Tiefe und Empfindsamkeit. Das trifft auf Deutscher nicht zu. Sie verfügt schon in ihren 20 Jahren über eine sagenhafte Reife, die sich nicht nur an ihrer schnellen Auffassungsgabe und Lernbereitschaft zeigt, sondern auch daran, dass sie schon recht selbstbewusst eigenständig mit dem Orchester probt und Mutis Genialität als Musiker und Lehrer zu ermessen weiß. Schon zum zweiten Mal geht sie bei ihrem großen Vorbild und Lieblingsdirigenten in die Schule. Im vergangenen Jahr war die in Wien lebende Britin, die nebenbei fließend Deutsch spricht, zur Arbeit an Mascagnis „Cavalleria rusticana“ in Suzhou dabei.

Ein weiteres Talent mit Zukunft mache ich in dem Einzigen Deutschen unter den Junioren aus: Korbinian Krol, der in der Kirchenmusik mehrere Preise gewann, sich von Tag zu Tag mehr Mutis effiziente Probentechnik zu eigen macht und davon überzeugen lässt, die italienische Sprache zu erlernen, um besser das Verhältnis von Wort und Ton bei Mozart erfassen zu können.

Grandioses Sängerensemble

Zu einem musikdramatischen Höhepunkt des Jahres wurde diese Opernakademie in Mailand für mich bei alledem dank eines exquisiten, typengerechten Sängerensembles.

Iwona Sobotka gibt eine grandiose Donna Anna wie ich sie seit Edda Moser nicht mehr erlebt habe, groß und furchterregend bei Stimme in den Momenten ihrer Traumatisierung durch den Mord an ihrem Vater, und mit kristallinen Spitzentönen gesegnet in ihrer lyrischen Arie „Crudele – Non mi dir“.

Und wann hat man seit Cesare Siepi schon einen in jeder Hinsicht so überzeugenden Titelhelden gesehen wie Christian Federici, dem man den attraktiven Frauenhelden ebenso abkauft wie den rücksichtslosen Egoisten, und der in seiner Arie „Fin ch’han dal vino“ (wörtlich zu Deutsch: Solange vom Wein betrunken) bravourös mithält mit dem rasanten Tempo und dem energetischen Schwung, den der Maestro dem Orchester verordnet, wenn er wieder einmal dem jungen Kollegen und den Musikern zuruft „Fare tempesta“- (Entfacht einen großen Wirbel!)  Nebenbei gesagt, gab es zu Mozarts Zeiten keinen Champagner, klärt Muti auf, insofern macht der in deutschen Textausgaben etablierte Beiname „Champagnerarie“ keinen Sinn.

Weitere große Entdeckungen waren für mich der Argentinier Nahuel Di Pierro als ein allen Facetten seiner Rolle gerecht werdender und mit profunden Stimmgaben gesegneter Leporello, sowie Žiga Čopi als ein in seinen Arien mit großer Zärtlichkeit aufwartender Don Ottavio. Auch die Partie der Donna Elvira mit Marily Santoro verdient eine Erwähnung, ein weiterer schöner schlanker Sopran, schlafwandlerisch sicher in den anspruchsvollen Koloraturen und packend stark im Ausdruckswillen der sitzen gelassenen Ehefrau.

Nicht zu vergessen den Komtur von Andrea Vittorio De Campo, eine Ausnahmestimme unter Bässen, furchterregend mächtig und so stark in der Resonanz, als singe er mit einem imposanten Hall auf der Stimme.

Inwiefern die Dirigentinnen und Dirigenten im regulären Opernbetrieb auf so grandiose Besetzungen werden zurückgreifen und anwenden können, was ihnen Muti auf den Weg gegeben hat? Einfach wird das nicht, ist einigen bewusst, zumal dann vielfach Regisseure mitwirken, die gegen die Musik inszenieren. – Einer der Gründe, warum sich der Maestro aus dem Opernbetrieb weitgehend zurückgezogen hat.

Und doch gibt sich Alma Deutscher optimistisch: Im Januar bietet sich ihr die Gelegenheit, in Kalifornien Mascagnis Einakter „Cavalleria rusticana“ zu dirigieren, freut sie sich, den sie mit Muti in China studiert hatte. Dort könne sie alles anwenden, was sie bei Muti gelernt hat.

Kirsten Liese, 2. Dezember 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Neunte italienische Opernakademie in Mailand 18. bis 26. November 2023, Fondazione Prada Mailand

7. Opernakademie, Giuseppe Verdis Nabucco, Riccardo Muti, Fondazione Prada, Mailand, 21. Dezember 2021

Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna 2019

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