Fondazione Prada, Riccardo Muti © Patrick Toomey
Neunte italienische Opernakademie in Mailand
18. bis 26. November 2023, Fondazione Prada Mailand
Norma: Monica Conesa
Pollione: Klodjan Kaçani
Adalgisa: Eugénie Joneau
Oroveso: Andrea Vittorio de Campo
Clotilde: Vittoria Magnarello
Flavio: Riccardo Rados
Orchestra Giovanile Luigi Cherubini
Coro Teatro Municipale di Piacenza
Dirigenten: Clancy Ellis (United States), Remi Geniet (France), Massimiliano Iezzi (Italy), Izabela Kociołek (Poland)
Gesamtleitung: Riccardo Muti
von Kirsten Liese
Einst sagte Maria Callas, deren 100. Geburtstag die Opernwelt in wenigen Tagen feiert, dass Bellini weitaus schwieriger zu singen sei als Verdi, Puccini und Wagner. Bekanntlich war sie eine der ersten, die dessen Belcanto-Opern Norma, La Sonnambula und I puritani in den 1950er Jahren wiederbelebte. Vor allem als Norma ist sie bis heute unübertroffen, 92 Male stand sie als Hohepriesterin auf der Bühne, erstmals schon in sehr jungen Jahren und nahezu bis zum Ende ihrer Karriere.
Auf seiner neunten Opernakademie, zum zweiten Mal in der Fondazione Prada in Mailand, äußerte sich Riccardo Muti sehr ähnlich: Verdi sei schon sehr schwierig, Rossini noch schwieriger, aber der allerallerschwierigste sei eben Bellini.
Die berühmte Casta Diva-Arie, deren Spitzentöne Callas mit so mächtiger Stimme ans Herz gehen ließ, stellt dabei keineswegs den größten Prüfstein für die Interpretinnen dar, wie sich vielleicht annehmen ließe. Bezeichnenderweise habe sich Toscanini, wenn ihm eine Sängerin angetragen wurde, mit der er diese Oper noch nicht einstudiert hatte, erkundigt, ob sie das Duett „In mia man“ singen könne, sagt Muti. Denn dort werde in der Tiefe eine für den unheilvollen Ausdruck geforderte maskuline, dunkle Farbe gefordert, mit der nur wenige Soprane aufwarten können.
Mehrere Aufnahmen mit diversen namhaften Interpretinnen, die ich mir daraufhin anhöre, bestätigen das. Die einzige Sängerin, die mich mit einer noch halbwegs der Callas vergleichbar gravitätischen Tiefe in diesem so bewegenden Duett überzeugt, ist Montserrat Caballé.
Umso mehr durfte man über das amerikanisch-kubanische Nachwuchstalent staunen, das Muti nun für die Titelrolle entdecken konnte: Monica Conesa verfügt über eine monumentale Stimme wie aus lang vergangenen goldenen Zeiten.
So sehr ich den inflationären Gebrauch von Superlativen, Anna Nebtrebko- und Maria Callas-Vergleichen scheue: Conesa, die sich im Sommer dieses Jahres in der Arena di Verona die Hauptrolle in Verdis Aida mit Anna Netrebko teilte, erinnert seitens Typ, Timbre und Volumen tatsächlich an die junge Callas. Und wie diese einst ihre hohe Kunst mit Hilfe der Dirigiergrößen Tullio Serafin und Antonino Votto ausprägte, beeindruckt Conesa damit, wie sie sich den hohen Ansprüchen des Maestros stellt, seine Vorgaben in kürzester Zeit umzusetzen vermag, unter seinen wachsamen Augen und Ohren ihre hoch anspruchsvolle Partie fulminant meistert.
Zu perfektionieren gilt es Vieles: die italienische Aussprache, die exzessive Dramatik, vertrackte rhythmische Stellen und diffizile Passagen im Zusammenspiel mit dem Orchester nach Kadenzen, Pausen, Fermaten und Tempowechseln. Und allen voran die Kultur des Legato-Singens.
Keine noch so kleine Ungenauigkeit entgeht Muti, und sei es nur die perfekte sprachliche Färbung für ein „Olà!“, das deutlich zu unterscheiden sein sollte vom spanischen „Olé“. Wird eine Achtelpause übersehen, schreitet der Maestro ebenso ein wie wenn der Konsonant „r“ in einer Phrase höchster Wut nicht die nötige Schärfe besitzt – eine Präzisionsarbeit, die sich auszahlt: So avanciert Conesa zur trefflichen, von Schmerz, Wut, Hass und Leidenschaft überwältigten Tragödin.
Die eine Woche intensiver Probenarbeit hat mich überhaupt die Herrlichkeit dieser Musik erfassen lassen, die sich mir in ihrer ungeheuren Dramatik in bisherigen Aufführungen noch nicht erschließen konnte. Und so verstehe ich nun auch allzu gut, warum Richard Wagner den Italiener Bellini so sehr schätzte und bewunderte, sich von ihm zum Liebestod in seinem Tristan inspirieren ließ. Hier und da höre ich Wendungen, die an Wagner erinnern, an einer Stelle gar den berühmten Tristan-Akkord. Vor allem das beseelte „In mia man“ berührt mich zutiefst. Aber auch die Duette zwischen Norma und Adalgisa zähle ich in ihrer vollendeten Harmonie zweier Frauenstimmen von nun an zum Schönsten, was italienische Oper hervorgebracht hat.
Das schreibe ich im Empfinden größter Dankbarkeit und im Wissen darum, dass ich das Geheimnis dieser Musik ohne Mutis Opernakademie wohl nie im Leben ergründet hätte. Und wie mir erging es wohl auch den meisten anderen, die sich im Saal der Fondazione Prada versammelten. Eben deshalb ist Mutis Nachwuchsarbeit unbezahlbar kostbar!!
Mir ist jedenfalls auf der ganzen Welt kein anderer Künstler bekannt, der sich mit einer vergleichbaren Hingabe jungen Kollegen widmet, sie für knifflige Stellen sensibilisiert, die nicht gleich ins Auge springen, teilhaben lässt an wertvollen Erfahrungen, unermüdlich auch immer wieder dasselbe predigt, wenn es sein muss. Und der als genialer, freundlicher Lehrer eine so gute Balance findet zwischen einer gewissen Strenge und Humor. Besonders lustig wird es, wenn Muti kleine unpassende Mimiken seiner jungen Kollegen karikiert, dies freilich stets mit einem Augenzwinkern, ohne jemanden zu verletzen oder vorzuführen.
Und so penibel wie sich Muti mit Sängern, Jungdirigenten und seinem Orchestra Giovanile Luigi Cherubini Stück für Stück in der Partitur vorarbeitet, vormacht, probiert, singt, deklamiert und erklärt, vermitteln sich unweigerlich auch den Zuhörenden die hohen Herausforderungen von Bellinis Musik.
Eine der wichtigsten Lektionen betrifft das durchgängige Legato-Musizieren, unabhängig davon, ob sich die Musik gerade mit einer schwermütigen Melodie im Lyrischen bewegt, oder in den kriegerischen Momenten mit scharf punktierten Rhythmen im Orchester-Tutti fanfarenartig aufwärts. Alle Noten müssen sich wie auf einer Linie fortsetzen.
Eine weitere große Erkenntnis betrifft die große Bedeutsamkeit der Rezitative, denen sich die meisten Dirigenten heute auf Proben kaum noch widmen, obwohl sich gerade in ihnen doch die dramatische Wucht entfaltet. Wer sie als Beiwerk erachtet, hat von Bellinis Belcanto-Stil wenig begriffen.
Zudem lehrt Muti die richtige Phrasierung. Lange Akkorde, die auf eine rezitativische Phrase folgen, gehören zum Abschluss noch dazu, müssen also unmittelbar an den letzten gesungenen Ton anschließen, und zwar mit einem weichen schönen Klang, nicht mit Karacho wie oft zu hören.
Letztlich war Bellini in seiner Notation so genau wie Verdi, sagt Muti, alles steht präzise in den Noten, jede Vortragsbezeichnung, jeder Akzent, jedes Fortepiano, Lunga, Morendo oder Rallentando, man muss einfach nur alles genauestens studieren. So wie Muti, der die Partitur trotz seiner großen Kennerschaft vor jeder Aufführung immer nochmal zur Hand nimmt, als schlage er sie zum ersten Mal auf.
Handwerklich machen die Jungdirigenten Clancy Ellis, Remi Geniet, Massimiliano Iezzi und Izabela Kociołek aus Polen ihre Sache schon recht gut, aber noch verlassen sie sich überwiegend auf den reinen Schlag. Am musikalischen Ausdruck und der Kommunikation mit dem Orchester gilt es noch zu arbeiten. Bei Muti können sie sehen, wie das geht, vor allem über den unabdingbaren Blickkontakt mit den Spielern, die gerade mit einem Solo hervortreten oder mit den Sängern in Momenten, wo ihnen Kadenzen Freiheiten in der Gestaltung einräumen und darauf zu achten gilt, dass das Ende der Szene von Sängern und Orchester präzise gemeinsam erreicht wird. Sollten einige Musiker unachtsam sein, ruft Muti schon einmal „Guarda me“- was soviel heißt wie „Schaut mich an“ – in die Instrumentengruppe hinein.
Und wie immer nutzt Muti die Plattform seiner Opernakademie, um Klartext zu ein paar grundsätzlichen Dingen zu reden. Diesmal geht es um unsinnige Formen von Zensur im Zuge einer kaum mehr ernstzunehmenden politischen Korrektheit. Den Anlass zu diesen Betrachtungen gibt ihm das in Italien offenbar verpönte Wort „giovanetta“, wie Norma in einer Szene Adalgisa bezeichnet, im Deutschen zu übersetzen in etwa mit „Fräulein“. Muti stellt klar: „Giovanetta“ ist keine Diskriminierung, da es von den Zeitgenossen des Komponisten überhaupt nicht so empfunden wurde. Dieses Wort gegen ein anderes auszutauschen, wäre mithin genauso falsch, wie Verdi „verbessern“ zu wollen, wenn man aus einem falschen Verständnis von Diskriminierung heraus Rigoletto absprechen würde, ein Krüppel zu sein, was zum Verständnis seiner Tragödie als ein leidgeprüfter, permanent Verspotteter unablässig erscheint.
In dem Kontext kommt Muti auch noch einmal auf ein Detail zu sprechen, was schon im Juni für Schlagzeilen sorgte, als sich der Maestro in seiner stoischen Unbeugsamkeit weigerte, eine Passage in Verdis Maskenball zu streichen, in der die Wahrsagerin Ulrica der Aussage des Obersten Richters nach „dell’immondo sangue dei negri“ („vom unreinen Blut der Neger“) ist. Zahlreiche Opernhäuser wie die Scala, die Met oder Covent Garden haben sie neutral umformuliert. Aber Muti hat natürlich völlig Recht, wenn er – mutig und kompromisslos wie er ist – insistiert, dass Verdi war kein Rassist war, es ihm vielmehr darum ging die rassistische Einstellung, Brutalität und Ignoranz des Richters schonungslos aufzuzeigen.
In Mailand erntet er dafür große Zustimmung, von einem hoch konzentrierten Publikum, in dem von Schulkindern bis zu Senioren alle Altersklassen vertreten sind.
Sie alle erleben fasziniert, wie der charismatische Muti seine Schützlinge immer wieder mit Feuer anheizt, seine Stimme erhebt, knurrt, die Zähne fletscht, um an den entsprechend exponierten Stellen noch mehr Dramatik einzufordern. Mit solch schier unbändigen Energien können wohl die wenigsten Dirigenten im Alter von 82 Jahren noch aufwarten.
Noch dazu ist rund um ihn und Monica Conesa ein vorzügliches Ensemble zu erleben, aus dem die agile Mezzostimme der Französin Eugénie Joneau als Adalgisa und der mächtige Bass von Andrea Vittorio de Campo als Normas Vater Oroveso hervorgehoben seien.
Apropos Adalgisa: Auch sie wird oftmals mit gewichtigen schweren Mezzostimmen unvorteilhaft besetzt, lerne ich bei Muti, eigentlich ist sie besser bei einem lyrischen Sopran aufgehoben wie es auch zur Uraufführung der Oper am 26. Dezember 1831 in Mailand der Fall war. In der späteren Aufführungsgeschichte war Muti in seinen jungen Jahren der Erste, der die Partie wieder entsprechend mit der Sopranistin Margherita Rinaldi besetzte.
Wie schön, dass die Sänger und das Cherubini-Orchestra noch einmal Gelegenheit nach dieser intensiven Probenphase haben werden, die gesamte Oper semi-szenisch unter Riccardo Mutis Leitung aufzuführen: auf dem Festival Herbsttrilogie in Ravenna an zwei Aufführungen am 16. und 19. Dezember. Ich ahne schon jetzt: Eine vergleichbar exquisite Norma wird wohl danach nicht allzu bald wieder geboten werden.
https://www.ravennafestival.org/en/la-trilogia-dautunno-secondo-riccardo-muti/
Kirsten Liese, 30. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Vorankündigung: Ravenna Festival 2023, Riccardo Muti Ravenna, Start 16. Dezember 2023
Buch-Rezension: Helge Klausener, Maria Callas Tag für Tag – Jahr für Jahr