Daniels Anti-Klassiker 46: Giuseppe Verdi – „Libiamo, ne’ lieti calici“ aus „La traviata“ (1853)

Daniels Anti-Klassiker 46: Giuseppe Verdi – „Libiamo, ne’ lieti calici“ aus „La traviata“ (1853),  klassik-begeistert.de

Höchste Zeit sich als Musikliebhaber einmal neu mit der eigenen CD-Sammlung oder der Streaming-Playlist auseinanderzusetzen.

Dabei begegnen einem nicht nur neue oder alte Lieblinge. Einige der so genannten „Klassiker“ kriegt man so oft zu hören, dass sie zu nerven beginnen. Andere haben völlig zu Unrecht den Ruf eines „Meisterwerks“. Es sind natürlich nicht minderwertige Werke, von denen man so übersättigt wird. Diese teilweise sarkastische, teilweise brutal ehrliche Anti-Serie ist jenen Werken gewidmet, die aus Sicht unseres Autors zu viel Beachtung erhalten.

von Daniel Janz

La traviata (zu Deutsch: „Die vom Wege Abgekommene“) von Verdi – eine weitere Oper des italienischen Komponistengiganten, die bis heute im kulturellen Gedächtnis verweilt und in einigen Ländern sogar die am meisten aufgeführte Oper überhaupt ist. Zwar hält ihr Ruhm heutzutage leider weniger wegen ihres Inhalts an, der wohl nur noch eingefleischten Operngängern etwas sagen dürfte. Aber in der medialen Verbreitung genießen einige Teile dieser Oper auch bis heute noch genreübergreifenden Kultstatus. Zeit also, sich einen weiteren der bekanntesten Ohrwürmer aus Verdis Feder anzuschauen: Die „Libiamo“-Arie aus dem ersten Akt von „La traviata“; oder aber das am meisten überschätzte Trinklied aller Zeiten.Mit „La traviata“ betrat Verdi damals hochaktuelles und skandalträchtiges Terrain. Der zugrundeliegende Roman inklusive Theateraufführung in Paris war noch keine 5 Jahre alt, als Verdi ihn – vermutlich auch autobiografisch motiviert – vertonte und damit zunächst ein krachendes Fiasko erlebte. Erst in der überarbeiteten Version trat die Geschichte um die Kurtisane Violetta Valéry, die im Verlauf der Handlung an Tuberkulose stirbt, ihren Siegeszug in den Opernhäusern an. Dass der Stoff die Gemüter erhitzte, zeigt bereits die Aufführungsgeschichte: Eine Kurtisane als Titelfigur zu wählen stellte einen regelrechten Skandal dar. In Italien wurde das Werk der Zensur wegen zunächst sogar nur unter dem Titel „Violetta“ aufgeführt.

Dieser harsche Umgang dürfte auch in der Hauptfigur Violetta selbst begründet liegen. Sie stellt sich zunächst nämlich als ganz und gar hedonistische Persönlichkeit dar. Ihr ausschweifender, lustorientierter Lebensstil wird erst unterbrochen, als Alfredo Germont in ihr Leben tritt und um ihre Hand anhält. Violetta nimmt an, trennt sich aber aufgrund einer Familienintrige wieder von ihm und flüchtet in die Arme von Baron Douphol. Alfredo, der ihr eifersüchtig folgt, sorgt daraufhin auf einem Fest des Barons für einen Eklat, der ein Duell beider Rivalen zur Folge hat. Douphol wird verwundet und Alfredo reist ins Ausland, wo er von Violettas Erkrankung erfährt. In aller Eile kehrt er zurück, und kann sie noch in ihren letzten Momenten auf dem Totenbett begleiten.

Diese Oper – trotz allem Gegenwind – zu vertonen und sogar zum Erfolg zu führen, stellt mit Sicherheit einen mutigen Schritt Verdis dar. Bis heute hallt dieser nach, die Aussage, dass Verdi damit gesellschaftlich –damals noch viel mehr in Verruf stehenden – geächteten Personengruppen eine Stimme gab, wäre nicht übertrieben. Dieser tragische Stoff hat etwas von Größe und Verdi verstand es auch, die Oper an und für sich genial zu inszenieren. Es ist daher umso erstaunlicher, dass vor allem die „Libiamo“-Arie sich in der kulturellen Erinnerung gehalten hat. Im Vergleich zum Rest des Stoffes, ragt sie zwar heraus – aber nicht unbedingt im positiven Sinne.

Im Wesentlichen handelt es sich bei dieser Arie um eine als Trinklied verpackte Erklärung des hedonistischen Lebensstils, den Bühnenbild und Handlung längst darstellen sollten. Schon der Text ist eine Ansammlung prepubertärer Plattitüden, die sich frei übersetzt etwa auf Folgendes reduzieren lassen: „Lasst uns saufen mit freudiger Hingabe, mögen diese flüchtigen Stunden uns mit endlosem Vergnügen berauschen (…) denn der Wein bringt leidenschaftlichere Küsse (…) Nichts anderes in der Welt zählt, als Vergnügen (…) lasst uns diese flüchtigen Momente genießen, so lange sie anhalten (…) wir leben nur für Freud und Spaß“.

Jetzt wäre es vermessen, an diese Oper moderne Ansprüche inhaltlicher Tiefe und Bedeutungsschwerpunkte setzen zu wollen. Nicht jede Szene in einer Geschichte, einem Roman oder einem Bühnenwerk muss eine die Handlung vorantreibende, spannungsgeladene Abfolge von bedeutsamen Aktionspunkten sein – Alltägliches und Banales hat durchaus seinen Platz in jeder Form von Erzählung. Verdi trieb diese Vorliebe jedoch oft auf die Spitze – dass er dazu neigt, seine Musik zum Ausdruck eines Lebensgefühls recht trivial zu gestalten, fiel schon bei seinem „La donna è mobile“ auf.

Der Kontrast fällt gerade im Vergleich zur restlichen Oper auf. Bei dieser Szene handelt es sich im Wesentlichen um ein gegenseitiges Zuprosten unter sorglos abgehobenen und weltfremden Eliten. Einen Toast auf Saufgelage der Superreichen (bzw. des Adels), könnte man meinen – ein Bruch zum Publikum, der selbst für die besten Dramaturgen schwer aufzulösen sein dürfte. Warum es diese Szene braucht, außer zur Darstellung schamloser Maßlosigkeit und brechreizerregender Arroganz, erschließt sich im Rahmen der restlichen Oper nicht – die adelige Herkunft aller Beteiligten, sowie Violettas ausschweifender Lebensstil sind auch so schon durch Aufführungsrahmen und die Entstehungsgeschichte deutlich.

Dazu kommt die am Maße der Peinlichkeit kratzende Kompositionsweise. Für seinen „Leierkastenstil“ musste Verdi auch schon bei anderen Werken, wie beispielsweise dem zuvor erwähnten „La donna è mobile“ harsche Kritik einstecken. Und trotzdem scheint der Gute aus diesem berechtigten Aufzeigen musikalischer Schwächen nichts gelernt zu haben – auch beim zwei Jahre späteren „Libiamo, ne’ lieti calici“ begegnet uns im Orchester wieder das allseits bekannte aber nicht minder langweilige Um-ta-ta. Warum braucht er dafür noch ein Orchester? Bei so einer Begleitung kann er die Drehorgel doch auch direkt auf die Bühne stellen und die restlichen Musiker nach Hause schicken. Ob wir es hier mit einer Folge von kompositorischer Einfältigkeit und Ideenarmut zu tun zu haben?

Im Kontext der Oper genommen ist diese Szene also eigentlich eine irrelevante Passage. Und trotzdem – nicht etwa die ausgeklügelten Duette zwischen Violetta und Alfredo, die packende Szene zur Mitte der Oper, wo es sich zwischen ihm und Baron Douphol bis zum Duell hochschaukelt oder die bewegende Schlussszene mit Violettas herzzerreißendem Tod sind heute noch medial in Erinnerung. Sondern ausgerechnet dieser nichtssagende Teil genießt die größte Bekanntheit.

Das Problem daran ist nicht, die Verklärung eines kleinen musikalischen Ausschnitts – ob das gerechtfertigt ist oder nicht läuft bestenfalls auf eine Geschmacksfrage hinaus. Sondern es wird da problematisch, wo die Verbreitung dieses Abschnittes stattfindet. Denn insbesondere bei Menschen, die nicht regelmäßig eine Oper besuchen, muss der Eindruck entstehen, dass diese künstliche Verklärung eines ganz und gar lebensfernen Stils der Inhalt dieser Musikart ist. So ein Bild wird aber weder dieser Oper im Speziellen, noch Opernmusik im Allgemeinen gerecht.

Es kommt bei mir daher der Eindruck auf, dass durch selektive Auswahl bestimmter Musikabschnitte medial ein falsches Gesamtbild transportiert wird. Ein Problem, das auch andere Werke, wie Händels Halleluja, Straussens  Zarathustra oder Korsakows Hummelflug mit dieser Oper eint.

Bekanntheit scheint jedenfalls besonders für einfache, triviale, inhaltslose Passagen vorreserviert zu sein. Und das zeigt sich an Verdis Beispiel – der Ohrwurmcharakter dieses Ausschnitts ist so groß, dass auf den Rest der Oper kein Wert mehr gelegt zu werden scheint. Und das, obwohl der Text so banal ist, dass er quasi austauschbar ist. Ich wage sogar die Prognose, das Werk würde durch eine komplette Aussparung des Textes gewinnen. Wäre es also nicht mal an der Zeit, Klassische Musik wieder in ihrer Gesamtheit zu vermarkten und bekannt zu machen, anstatt sich auf die Ohrwürmer in ihr zu beschränken? Meiner Meinung nach ließe sich damit viel gewinnen.

Daniel Janz, 14. Januar 2022, für
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Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.

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