Foto: Iko Freese / drama-berlin.de
Erich Wolfgang Korngold, Die tote Stadt
Komische Oper Berlin, 6. Oktober 2018
von Ingo Luther
Erich Wolfgang Korngold war 20 Jahre alt, als er mit der Arbeit an der Oper Die tote Stadt begann. Mit gerade mal 23 Jahren wurde sein erstes großes Werk in einer Doppelpremiere am 4. Dezember 1920 gleichzeitig in Hamburg und Köln uraufgeführt. Selbst Richard Strauss und Giacomo Puccini wurden zu Bewunderern der kompositorischen Fähigkeiten des im damaligen Brünn geborenen Wunderkindes.
Der Belgier Georges Rodenbach hatte 1892 seinen Roman Das tote Brügge (frz. „Bruges-la-Morte“) veröffentlicht und hier die Geschichte des Witwers Hugues Viane geschildert, der sich in „die tote Stadt“ Brügge zurückzieht und dort der tragischen Obsession zu einer Operndarstellerin erliegt, die seiner verstorbenen Frau gleicht. Unter dem Pseudonym des Librettisten „Paul Schott“ war es Korngolds Vater Julius, der seinem Sohn bei der textlichen Aufarbeitung des Stoffes für dessen Opern-Erstling zur Seite stand.
Gerne wird die Jahrzehnte währende Abstinenz von Korngold-Werken von den großen Opernbühnen dieser Welt neben seiner jüdischen Herkunft mit diversen Schwächen in den Libretti seiner Werke begründet. Kein Wunder – ist ein 20-Jähriger denn dazu in der Lage, die psychologischen Grenzwelten zwischen taumelnden Gefühlsexzessen und suizidalem Wahnsinn komplett zu durchleuchten? Sicher nicht. Dennoch erlebt Korngold in der heutigen Zeit eine wiederholte „Wiederauferstehung“! Seine Werke werden nun zu allererst als das gesehen, was sie ohne jeden Zweifel sind: musikalische Meisterwerke mit kostbaren, klanglichen Extravaganzen.
Nach der geradezu sensationellen Wiederentdeckung von Das Wunder der Heliane an der Deutschen Oper Berlin im April dieses Jahres kann sich der neue GMD der Komischen Oper Berlin, Ainars Rubikis, mit der Interpretation von Die tote Stadt eine Art Wunschtraum erfüllen. So jedenfalls kündigte er es im Vorfeld der Premiere auf einem hauseigenen Video an.
Eines sei vorausgeschickt: Den unglaublichen Erfolg der Heliane an der Bismarckstraße kann diese Produktion von Die tote Stadt nicht annähernd toppen. Aber hat dies wirklich jemand erwarten können? Das späte Werk Korngolds war im Frühjahr in der Deutschen Oper unter dem Dirigat von Marc Albrecht wie ein sprichwörtlicher Blitz eingeschlagen und hatte für ungewöhnlich einheitliche Begeisterungsstürme aus allen Richtungen gesorgt.
Der Besucher in der Komischen Oper Berlin bekommt einen handwerklich soliden, durch und durch schlüssigen Korngold geboten. Robert Carsen verzichtet in seiner ersten Arbeit für das Haus an der Behrenstraße auf Experimente und Provokationen. Das Skandal-Potential liegt komplett bei null. Er erzählt die Story als das, was sie letztlich ist: Die verzweifelte Geschichte eines gebrochenen Witwers, der sich zwischen dem Tod seiner innig geliebten Frau Marie und seinem Rückzug in die morbide Atmosphäre der Stadt Brügge zunehmend in den Wahnsinn halluziniert. Mit dem Erscheinen der Tänzerin Marietta, die seiner verstorbenen Frau auf verblüffende Art gleicht, verschwimmen Realität und Wahn zu einem ausweglosen psychoanalytischen Drama.
Das Ehebett als Relikt der vergangenen Glückseligkeit steht im Zentrum des Bühnenbildes und muss immer wieder als Dreh- und Angelpunkt von düsterer Vergangenheitsbewältigung und überschwänglichen Zukunftsvisionen herhalten. Das Instrument der Videoprojektion wird stilvoll und ohne jeden Aktionismus eingesetzt – es begleitet die Geschichte, es übernimmt nicht die Erzählung. Hier gelingen ausdrucksstarke Momente, wenn das Bild der verstorbenen Marie wie aus dem Nebel der Erinnerung heraus auftaucht.
Sara Jakubiak als Marietta und der Stimme Maries ist der alles überstrahlende Stern in dieser Aufführung. Ihr kraftvoll-leuchtender, immer textverständlicher Sopran kann sich mühelos über die Dezibel aus dem Orchestergraben erheben und sorgt für die Gänsehautmomente an diesem Abend. Dem kitschig-romantischen Lied Glück, das mir verblieb verleiht sie mit ihrer Stimme Tiefe und Ernsthaftigkeit.Zur Schönheit von Jakubiaks Stimme gesellt sich die überragende Kunst ihrer Darstellung. Mit Raffinesse und subtiler Erotik bemächtigt sie sich mühelos der Seele des gebrochenen Pauls, der ihrem Zauber gnadenlos verfällt.
Unter der Dominanz seines weiblichen Gegenparts kann der tschechische Tenor Ales Briscein eigentlich nur Mitleid erwecken. Seine Stimme verfügt über zu wenig Schattierungen, um die komplette Bandbreite des aus den Fugen geratenen Seelenlebens Pauls abzubilden. Er bemüht sich nach Kräften, dabei gelingen ihm in den sentimentalen, ruhigen Augenblicken durchaus berührende Momente. In den höheren Lagen wird seine Stimme eng und wenig klangschön. Schauspielerisch ist er durchaus in der Lage, dem zunehmenden Wahnsinn und der inneren Zerrissenheit des Witwers Ausdruck zu verleihen.
Günter Papendell in der Rolle des Frank übertrumpft seinen Freund Paul stimmlich in Sachen Leidenschaft und Temperament. Maria Fiselier gibt eine treusorgende Haushälterin Brigitta, die mit einer sauber geführten Alt-Stimme überzeugen kann.
Im 2. Bild kommen Glitzer und Glamour ins Spiel, die man an der Komischen Oper auch irgendwie erwartet. Rassige Tanzszenen und ein Hauch von Revue zaubern den Esprit der 1920er-Jahre in das Haus an der Behrenstraße. Auch die Prozessionsszene im 3. Bild ist mit zahlreichen Heiligenfiguren und großem klerikalen Brimborium mehr als üppig ausgestattet. Hier wird mit optischen Feuerwerksknallern nicht gegeizt.
Die Partitur stellt den neuen GMD der Komischen Oper Ainars Rubikis vor eine große Herausforderung, aber auch vor Probleme. Dieses Werk voller Dunkelheiten und Mysterien, aber auch voller Passion und Liebe stößt in musikalische Grenzbereiche vor. Hier kommt aus dem Orchestergraben zum Teil eine solche Wucht und eine solch blecherne Gewalt, dass es die Besucher im vorderen Parkett geradezu in ihren Sitz drückt. Weniger wäre da oft mehr. In den zarten, lyrischen Passagen zeigt Rubikis dafür gekonnt, warum Korngold im Fortgang seiner Karriere zum Mitbegründer der Hollywoodschen Filmmusik avancierte. Hier strömt der warme, opulente Orchestersound der Spätromantik wundervoll dahin.
Die Komische Oper hat mit Robert Carsens Interpretation von Die tote Stadt eine sehr ernsthafte und schnörkellose Deutung dieses schwülstigen Opernstoffes auf die Bühne gebracht. Bahnbrechende Ideen oder gewagte Neuauslegungen wird man vergeblich suchen – aber warum auch? Am Ende kann man zufrieden auf einen gelungenen Opernabend zurückblicken, der als ein wertvoller Mosaikstein bei der Rückeroberung der Opernbühnen durch Korngolds Werke angesehen werden kann.
An sechs weiteren Terminen in diesem Jahr ist Die tote Stadt an der Komischen Oper Berlin zu sehen. Wer die Chance hat, sollte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.
Ingo Luther, 7. Oktober 2018
für klassik-begeistert.de
Musikalische Leitung, Ainars Rubikis
Inszenierung, Robert Carsen
Bühnenbild, Michael Levine
Kostüme,Petra Reinhardt
Licht, Robert Carsen, Peter van Praet
Video, Will Duke
Paul, Ales Briscein
Marietta / Erscheinung Maries, Sara Jakubiak
Frank, Pauls Freund / Fritz der Pierrot, Günter Papendell
Brigitta, Pauls Haushälterin, Maria Fiselier
Juliette, Tänzerin, Georgina Melville
Lucienne, Marta Mika
Victorin, der Regisseur, Adrian Strooper
Chorsolisten der Komischen Oper Berlin
Kinderchor der Komischen Oper Berlin
Tänzer, Kai Braithwaite, Michael Fernandez, Hunter Jaques, Shane Dickson, Danilo Brunetti, Daniel Ojeda, Paul Gerritsen, Lorenzo Soragni
Orchester der Komischen Oper Berlin
Das idiotische Wort toppen kann man sehr gut mit dem deutschen Wort übertreffen ‚ersetzen‘. Das sagt Ihnen ein Anglist.
Klaus Serning