"Ein Ohrwurm plagt mich seit Tagen": Stehende Ovationen für "Tosca" in Hamburg

Giacomo Puccini, Tosca, 28. November 2018, Adina Aaron, Marcelo Puente, Andrzej Dobber,  Staatsoper Hamburg

Foto: Westermann (c)
Staatsoper Hamburg
, 28. November 2018
Tosca – Melodramma in drei Akten von Giacomo Puccini(1858 – 1924) nach dem Theaterstück „Tosca“ von Victorien Sardou

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Chor der Staatsoper Hamburg
Hamburger Alsterspatzen
88. Vorstellung seit der Premiere am 15. Oktober 2000
Musikalische Leitung: Pier Giorgio Morandi
Inszenierung: Robert Carsen
Bühnenbild und Kostüme: Anthony Ward
Lichtkonzept: Davy Cunningham

 von Teresa Grodzinska

Ich wollte eine veritable Kritik schreiben, Stellung beziehen, Kontrapunkte setzen, kritisch hinterfragen… vergeblich. Ein Ohrwurm plagt mich seit Tagen: die Arie des Cavaliere Cavaradossi „E lucevan le stelle“ (Und Sterne leuchten).

Ich kenne diese Arie: Als kleines Mädchen sah ich meine Mutter zum ersten Mal weinen, als aus unserem Radio (Marke: Tesla) diese Musik ertönte. Caruso, sagte meine Mutter. Er sieht wie eine Kröte aus, wenn er singt, aber … hör zu. Er ist der beste Tenor der Welt.

Nachzuhören hier: https://www.youtube.com/watch?v=3TjEoAXzJ9E&start_radio=1&list=RD3TjEoAXzJ9E&t=49.

Eine Plattenaufnahme aus dem Jahre 1904. Jawohl!

„Tosca“ begleitet jede Generation aufs neue. Eine junge Frau neben mir wischte sich Tränen und atmete tief durch, während Marcelo Puente die berühmte  Arie ”E lucevan le stelle” sang. Sie war mit einer Freundin gekommen, hatte einen dieser unsäglichen Hosenanzüge, die unter Männern „auf Augenhöhe“ arbeitende Frauen bevorzugen, an. Und auf einmal wirkte sie schwach, verletzlich und berührt. Gefühle… durch einen Mann hervorgerufen… Kann sich eine Frau das heutzutage noch leisten?

Wie wir sehen – durchaus, vor allem in einer italienischen Oper wie „Tosca“. Ein veristisches Drama (in schonungsloser Weise wirklichkeitsgetreu), 1900 in Rom mit mäßigem Erfolg uraufgeführt. Die Handlung ist in den Zeiten von Napoleons Kriegen gegen den Rest der Welt angesiedelt. Genauer: während des Eroberungszuges Napoleons im Jahr 1800, durch den Sieg in der Schlacht bei Marengo gekrönt. In Rom herrscht die in den letzten Zügen liegende Monarchie;  ihr zuverlässiger Arm: Scarpia, Chef der römischen Polizei. „Ganz Rom zittert vor ihm.“

Er als einziger hat sich in unserer Zeit als Menschentypus behauptet und ist oft anzutreffen. Solche machtbesessenen Sexisten sind eher im Showbiz als bei der Staatsmacht angesiedelt, aber #Metoo berichtet über tausende Scarpias. Erschreckend aktuell – und von Andrzej Dobber, Bariton, sehr überzeugend gespielt und absolut sauber und machtvoll gesungen. Scarpias Credo: erpressen, geniessen, zerstören, weitermachen. Der saftige Bariton von Dobber wirkt ungewollt sympathisch.

Die 88. Vorstellung ist schon eine Zäsur für das Ensemble und die Solisten. Die Kleider benutzt, sieben Garnituren Kandelaber, 15 Tutus des Chores (was wachsen die Kinder so schnell…) und trotzdem präzise, stimmungsvoll und überzeugend das Bühnenbild sowie das Bühnengeschehen. Mir gefiel am besten der 2. Akt: golden-rote Engel mit Trompeten über den Köpfen der Menschenmenge schwebend, schon fast weihnachtlich anmutend. Einzug Scarpias und seiner Gehilfen, allesamt in Lackschuhen.

Jetzt zu Floria (die goldene) Tosca. Eine Künstlerin, die auch in dieser Oper eine gefragte Sängerin mimt. Adina Aaron, für Kristin Lewis krankheitsbedingt eingesprungen, steht durchaus mit ihrer nuancierten, sanften aber nie süßlichen Interpretation in der Tradition Renata Tebaldis, Maria Callas’ und Anna Netrebkos. Die Aaron hat eine immense Stimmkraft, eine – für mich durchaus im besten Sinne des Wortes – “schwarze” Stimme. Ihr  wurde am Ende der Vorstellung und auch nach der berühmten Arie “Vissi d’arte” (Ich lebte für die Kunst, ich lebte für die Liebe”) mit wärmsten Applaus gedankt.

Sonst war alles wunderschön, und das ist verstörend. Wer in der „Tosca“ heutzutage noch Trost findet, ist nicht ganz bei Trost. Die Welt ist nicht besser geworden seit 1900. Verhöre samt Foltern und Nötigung alleinstehender Frauen sind an der Tagesordnung in vielen Gegenden dieser Welt.

Das war auch mein Problem an diesem Abend: Der gefolterte Cavaradossi singt schön aus dem Off, Tosca tötet, und die Musik ertönt lieblich. Scarpia verbreitet seine Sexphantasien zu sehr harmonischer Begleitung durch das Orchester. Die Form ist schön, der Inhalt … grässlich. Und trotzdem laufe ich seit Tagen mit dem Ohrwurm von Cavaradossi (Marcelo Puente) herum…

Das Publikum war am Ende sehr, sehr dankbar und applaudierte minutenlang. Stehende Ovationen in einem sehr gut besetzten Haus.

Teresa Grodzinska, 30. November 2018, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Besetzung:
Floria Tosca: Adina Aaron
Mario Cavaradossi: Marcelo Puente
Scarpia: Andrzej Dobber
Angelotti: Alexander Roslavets
Sagrestano: Shin Yeo
Spoletto: Peter Galliard
Sciarrone: Ang Du
Un Carceriere: Christian Bodenburg
Un Pastore: Ruzana Grigorian

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