Brenda Rae und Simon Neal © Barbara Aumüller
In ihrer Inszenierung an der Oper Frankfurt zeigt die Regisseurin Nadja Loschky mit durchdachten Ideen den Aufstieg und Fall von Lulu, einer Frau, die aus der Gosse kommt, sich in der glamourösen Gesellschaft hoch-heiratet, um dann wieder in der Gosse zu landen, wo sie als Prostituierte von Jack the Ripper ermordet wird. Musikalisch wird der Abend zum Ereignis, weil Thomas Guggeis dem Publikum die Komposition von Alban Berg sehr schlüssig zu Ohren führt, unterstützt von einem erstklassigen Gesangs-Ensemble.
Alban Berg (1885-1935), Lulu
Oper in drei Akten / Text vom Komponisten nach Frank Wedekind
Musikalische Leitung: Thomas Guggeis
Inszenierung: Nadja Loschky
Bühnenbild: Katharina Schlipf
Kostüme: Irina Spreckelmeyer
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Lulu Brenda Rae
Dr. Schön/Jack the Ripper Simon Neal
Alwa AJ Glueckert
Gräfin Geschwitz Claudia Mahnke
Maler/Freier Theo Lebow
Tierbändiger/Athlet Kihwan Sim
Schigolch Alfred Reiter
Oper Frankfurt, 9. November 2024
von Jean-Nico Schambourg
Es ist meine erste “Lulu”, die ich live auf einer Opernbühne sehe. Sicherlich werde ich sie mir nicht so oft anschauen und anhören wie zum Beispiel “Tosca”, “Carmen”, “Aida” oder andere Opernhits! Allerdings ist das, was die Oper Frankfurt mit der Inszenierung von Nadja Loschky und der musikalischen Leitung von Thomas Guggeis auf die Bühne bringt, an Spannung kaum zu überbieten und hält mich über drei Stunden lang in ihrem Bann!
Schmutz als Leitfaden von Lulus Leben
Schmutz – wie ein Leitfaden zieht sich dieses Wort durch den Opernabend, sei es im Text der Oper, sei es in der Erzählung der Handlung, sei es in der szenischen Ausführung, sei es im grauen Bühnenbild von Katharina Schlipf.
Das Thema Schmutz stellt die Regisseurin Nadja Loschky in ihrer Inszenierung in den Mittelpunkt. Lulu kommt aus der Gosse, aus dem Schmutz. Und nach ihrem glamourösen gesellschaftlichem Aufstieg führt ihr Lebensweg sie bis zu ihrem Tode auch wieder dorthin zurück.
Loschky hat der Sängerin der Lulu eine Tänzerin hinzugefügt: die Anima, wie sie es nennt (beeindruckend dargestellt von Evie Poaros). Sie ist die Verkörperung von Lulus Vergangenheit, ihres Ursprungs, ihrer Seele. Am Beginn der Oper wird sie aus einem Schlammloch herausgezogen, wohin sie sich auch nach dem Tode der Lulu wieder verkriecht. Egal, welche superben Kleider Lulu im Laufe des Abends trägt (Kostüme: Irina Spreckelmeyer), die Anima ist stets mit demselben schmutzigen Kleid bekleidet. Kleider machen Leute? Vielleicht äußerlich, aber man kann dadurch nicht seine Herkunft verleugnen.
Schmutz bestimmt auch die Welt, die Lulu umgibt. Alle Personen die Lulu umgeben spielen ein “schmutziges” Spiel mit ihr, missbrauchen sie für ihre “schmutzigen” Zwecke: Schigolch missbraucht sie seit ihrer Kindheit, der Maler erreicht durch sie hohe künstlerische Anerkennung, auch für alle anderen ist sie eine “Trophäen-Frau” mit der man sich schmücken kann und die man ausnutzen kann.
Dr. Schön, von dem Lulu sagt “Der Einzige, den ich geliebt”, verheiratet sie mit anderen Männern. Weil er ihr Gutes antun möchte? Nein, weil es seinen Interessen zu Gute kommt. Dies erinnert an die heutigen Aussagen eines verurteilten, egozentrischen Machthabers, wenn er über Frauen spricht. Es hat sich also nichts geändert!
Wenn Lulu Dr. Schön im zweiten Akt in Notwehr erschießt, quillt aus dessen Wunde kein Blut, sondern nur grauer Schmutz. Die Inszenierung von Nadja Loschky zeigt klar: Der Schmutz ist überall, in jedem!
Auch Lulu kann sich nicht von ihrer Umwelt und dem Schmutz befreien. Sie gehört dieser Welt an.
“Ich habe nie in der Welt etwas anders scheinen wollen, als wofür man mich genommen hat, und man hat mich nie in der Welt für etwas anderes genommen, als was ich bin.” (Lulu, 2. Akt).
Nur im Augenblick ihres Todes befreit sie sich von dem Korsett, in das sie ihre Umwelt gezwängt hat. In dieser Inszenierung wirft sie sich bewusst ins Messer von Jack the Ripper, der in der Gestalt von Dr. Schön auftritt. Ihre Anima zieht sich in ihr Schlammloch zurück, während alle Menschen ihres Lebens als Gaffer ihrem Ableben zuschauen.
Totale Symbiose zwischen Dirigent und Orchester
Musikalisch ist die Ausführung außergewöhnlich. Thomas Guggeis zelebriert mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester die Partitur, die er mit großer Sorgfalt dem Publikum zu Gehör bringt. Er zeigt die Kompositionsweise von Alban Berg und dessen Hang zur Strukturierung, zur Symmetrie, aber auch dessen Anwendung von verschiedenen Klangfarben und Klangwelten, um Figuren und Situationen zu zeichnen.
Ob in der Interpretation großer Gefühlsausbrüche, in der kammermusikalischen Darstellung der Emotionen oder der Einstreuung von Jazzmusik, das Orchester folgt ihm dabei mit großer Präzision und Sensibilität.
Bergs Liebe zur Symmetrie wird in Frankfurt organisationstechnisch ausgenützt: Das Zwischenspiel im 2. Akt, das Berg wie eine spiegelartige Filmmusik komponierte, wird auf dem Scheidepunkt für die einzige Pause des Abends unterbrochen. Bis zu diesem Moment erlebt der Zuschauer den gesellschaftlichen Aufstieg von Lulu, ab diesem Moment geht es in ihrem Leben bergab. Auch klanglich wird dieses erst Auf und dann Ab dem Publikum von Guggeis und seinem Orchester ausdrucksvoll zu Ohren geführt.
Erstklassiges Gesangs-Ensemble als Garant für den Erfolg
Dass die Oper Frankfurt seit längerem unter den Spitzenhäusern Europas figuriert, liegt sicherlich auch an der Besetzungspolitik des Hauses. Bei einem solch starken Ensemble ist das gesangliche Niveau jeder Aufführung ein Garant für den Erfolg. Dazu kommt, dass die Gastsänger zum einen Teil frühere Mitglieder des Frankfurter Ensembles sind oder zum anderen Teil immer wiederkehrende Künstler sind, die sich hier anscheinend sehr wohl fühlen.
Zur ersteren Gruppe gehört die Interpretin der Lulu, Brenda Rae, die in der Zwischenzeit an allen wichtigen Opernhäuser der Welt mit großem Erfolg auftritt. Sie singt Lulu mit flexiblem Sopran, meistert nicht nur technisch perfekt, sondern auch ausdrucksreich die hohen Ansprüche der Partitur.
Simon Neal, ein regelmäßiger Gast der Frankfurter Oper, singt mit eindrucksvollem Bariton einen berechnenden, kaltblütigen, machtbesessenen Dr. Schön.
AJ Glueckert singt mit strahlendem Tenor den Alwa, Sohn von Dr. Schön, der sein Begehren für seine “Schwester” Lulu nur schwer unterdrücken kann. Claudia Mahnke gibt eine lesbische Gräfin Geschitz die ihre Liebe zu Lulu unterdrückt und diese erst im Schlussbild intensiver deklamiert. Theo Lebow ist ein träumerischer Maler, Alfred Reiter ein fieser Schigolch, Kihwan Sim ein skurriler Athlet mit flexiblem Bass.
Alle anderen Sänger, Mitglieder des Ensembles der Oper Frankfurt, tragen ihren Teil zum großen Erfolg des Abends bei.
Jean Nico Schambourg, 11. November 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at