Die Wiedergeburt eines Meisterwerkes: 110 Jahre nach seinem Tod feiert Albéric Magnard mit seiner Oper “Guercoeur” an der “Opéra du Rhin” in Straßburg einen großen Erfolg

Guercoeur © Klara Beck

An der “Opéra National du Rhin” in Straßburg kann man dieser Tage eine musikalische Entdeckung machen, die Oper Guercoeur” des französischen Komponisten Albéric Magnard. Hier wird ein Meisterwerk französischer Opernkomposition vom Anfang des 20. Jahrhunderts vorgestellt. Alle Liebhaber, die die Reise ins Elsass nicht antreten, können sich trösten, da Arte die Aufführungen mitschneidet. Der Mitschnitt ist ab dem 25. Mai auf “Arte.tv” zu sehen.

Albéric Magnard (1865-1914)
GUERCOEUR

Lyrische Tragödie in 3 Akten (Libretto: Albéric Magnard)

Musikalische Leitung:  Ingo Metzmacher
Inszenierung:  Christof Loy
Bühnenbild:   Johannes Leiacker
Kostüme:   Ursula Renzenbrink

Orchestre philharmonique de Strasbourg
Choeur de l’Opéra National du Rhin (Leitung: Hendrik Haas)

Opéra du Rhin, Straßburg, 28. April 2024

 von Jean-Nico Schambourg

Albéric Magnard dürfte den wenigsten ein Begriff sein. Schüler von Massenet und Vincent d’Indy, komponierte Magnard wenige Werke.

Nur 22 Werke tragen eine Opus-Nummer. Darunter befinden sich drei Opern: “Yolande” (1892), “Bérénice”, komponiert 1909 und uraufgeführt 1911 an der Opéra comique in Paris, und “Guercoeur”! Magnard hatte diese Oper schon 1901 fertiggestellt. Allerdings fand er keinen Abnehmer für eine Aufführung. So kamen zu Lebzeiten Magnards nur der erste Akt (1908) und der dritte Akt (1910) konzertant zur Aufführung.

Sein Tod 1914 war dramatisch: Er wurde von deutschen Soldaten getötet, als er sich ihnen bei ihrem Marsch auf Paris entgegenstellte. Sein Schloss wurde abgefackelt. Mit Magnard verbrannten viele seiner Partituren, u.a. die Orchesterpartitur der Akte 1 und 3 von “Guercoeur”.  Diejenige des 2. Aktes befand sich zu diesem Moment zufällig in Paris.

Guy Ropartz, sein Freund seit ihrer gemeinsamen Studienzeit am Konservatorium, der schon konzertante Aufführungen der einzelnen Akte dirigiert hatte, verfasste die Orchestrierung neu aus seinem Gedächtnis heraus.

 “Guercoeur” wurde zum ersten Mal 24. April 1931 an der Pariser Oper aufgeführt. Unter der Leitung von François Ruhlmann sangen u.a. Arthur Endrèze (Guercoeur), Marisa Ferrer (Giselle), Victor Forti (Heurtal), Yvonne Gall (La Vérité), Germaine Hoerner (La Bonté), Raoul Jobin (L’ombre d’un poète).

Nach 11 Vorstellungen geriet die Oper in Vergessenheit. In den 80er Jahren nahm der französische Dirigent Michel Plasson die Oper für EMI auf, mit José van Dam in der Titelrolle. Vor drei Jahren spielte dann die Oper Osnabrück das Werk auf ihrer Bühne. Die Aufführungsserie an der “Opéra du Rhin” in Straßburg ist somit die erste Aufführung in Frankreich seit der Uraufführung 1931.

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Guercoeur © Klara Beck

Die Oper erzählt die Geschichte des Helden Guercoeur, der zwei Jahre nach seinem Tod sich im Paradies immer noch sehnt nach seiner Geliebten Giselle, seinem Freund Heurtal und seinem Volk, dem er Freiheit und Demokratie gebracht hat. Die vier Göttinnen der Güte, der Schönheit, der Qual und der Wahrheit beraten sich und Guercoeur wird zurück auf die Welt geschickt.

Dort muss er allerdings erfahren, dass Giselle, die ihm ewige Treue geschworen hatte, sich in der Zwischenzeit in Heurtal verliebt hat. Sie wird zwar verfolgt von Gewissensbissen, wünscht sich aber ein Leben in Glück mit ihm. Nach anfänglicher Wut und Enttäuschung vergibt Guercoeur ihr und gibt sie für Heurtal frei. Dieser hat sich seit dem Tod seines Freundes und Mentors von ihren einstigen gemeinsamen politischen Idealen, Freiheit und Demokratie, abgewendet und will jetzt durch Diktatur regieren. Als Guercoeur sich gegen ihn stellt, wird er von Heurtal verhöhnt und vom Volk getötet.

Zurück im Paradies bittet Guercoeur wegen seines Stolzes um Verzeihung. Diese wird ihm gewährt, ebenso wie Vergessen und ewige Ruhe. Die Göttin der Wahrheit sagt ihm voraus, dass der Tag kommen wird, wo die Menschen den wahren Sinn des Lebens erkennen werden. Dieser Tag ist aber noch fern. Bis dahin bleibt allein die Hoffnung!

 Welch aktuelle Thematik, geschrieben vor mehr als einem Jahrhundert!

 Die Opéra du Rhin” hat sich der Aufgabe der Wiedergeburt dieses Werkes mit großem Respekt  und Engagement angenommen. Neben einer französischsprachigen Sängerbesetzung, engagierte man für die musikalische, sowie die szenische Umsetzung keinen geringeren als den Dirigenten Ingo Metzmacher und den Regisseur Christof Loy. Hierbei hätte man keine bessere Entscheidung fällen können. Beide nahmen sich der Aufgabe mit viel Freude an.

 In der Musik von Magnard spürt man seine Begeisterung für die neue deutsch-österreichische Schule des 19. Jahrhunderts. Magnard wurde von manchen auch als der “französische Bruckner” bezeichnet. Unüberhörbar ist aber auch seine Bewunderung für die Musik von Richard Wagner.

“Guercoeur” erinnert in manchen Momenten sehr stark an “Parsifal”. Auch Magnard verwendet Leitmotive, jedoch sind diese hier an Gefühle gebunden und nicht an Personen oder Gegenstände. Aber trotzdem beinhaltet seine Musik eine typisch französische Klarheit, die ihren Höhepunkt im dritten Akt in einer Musik von sublimer Reinheit findet.

Ingo Metzmacher weiß um diese Zusammenhänge. Seine Erfahrung als Dirigent von Opern, u.a. Wagneropern, aber auch seine Expertise auf dem symphonischen Gebiet und demjenigen der neueren Musik, erlauben ihm, dieser fast symphonischen Dichtung einen klanglichen Fluss zu geben.

Dabei scheut er weder davor zurück, das Orchester zu vollem, epischen Klang hoch zu puschen, noch dieses zu zügeln, um ihm lyrische Melodien zu entlocken. Das “Orchestre philharmonique de Strasbourg” folgt ihm dabei vollkommen und legt den musikalischen Teppich für die Sänger. Diese werden in keinem Moment vom musikalischen Schwall überdeckt. Auch sticht bei jedem der Sänger die perfekte französische Diktion hervor.

Für die Titelrolle kann man sich momentan keinen geeigneteren Sänger vorstellen als Stéphane Degout. Sein dramatischer Bariton vermittelt perfekt die verschiedenen Gemütslagen, die der Titelheld während den drei Akten der Oper durchlebt. Schon mit seinen ersten Worten “Vivre!” (Leben!) zieht er den Zuhörer völlig in seinen Bann und vermittelt  Guercoeurs Sehnen nach seinem früheren Leben, nach der Liebe zu seiner Giselle, nach seinem Freund Heurtal, nach seinem Volk. Seine Stimme leuchtet auf, wenn Guercoeur wieder auf die Welt zurück darf, wo allerdings Schmerz und Enttäuschung auf ihn warten. Für die Begegnung mit Giselle findet der französische Bariton jeweils die richtigen Stimmfarben, um zuerst seine zärtliche Freude über das Wiedersehen, dann seine Enttäuschung und Wut über den Verrat seiner Geliebten, und schlussendlich die Vergebung für ihre “Untreue”  auszudrücken.

 In die Konfrontation mit Heurtal und dem Volk wirft er sich mit vollem stimmlichen Elan, um dann bei seiner Rückkehr ins Paradies wieder weichere Töne anzustimmen, die davon zeugen, dass Guercoeur seinen Stolz abgelegt hat.

Auch szenisch zieht Degout die Aufmerksamkeit des Publikums stets auf sich, auch in den Momenten, wo er nicht singt. Eine großartige Darstellung!

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Guercoeur © Klara Beck

Antoinette Dennefeld singt mit ihrem weichen, runden Mezzosopran eine junge, leidenschaftliche Giselle. Deren Gewissensbisse über den gebrochenen Treueschwur weiß sie glaubhaft zu vermitteln. Ihr neuer Geliebter, Heurtal, wird gesungen von Julien Henric, mit durchschlagendem Tenor.

Diesen menschlichen Personen steht ein fulminantes Quartett von Göttinnen gegenüber. Der Göttin der Wahrheit von Catherine Hunold gehört die letzte Szene, die sie mit großer, ausdrucksvoller Sopranstimme gestaltet. Die lyrischen Passagen trägt sie mit schwebenden piano Spitzentönen meisterlich vor.

Mit ihrem Alt voller warmeKlangfarben berührt Adriana Bignagni Lesca die Herzen der Zuhörer als Göttin der Qual.

Eugénie Joneau als Göttin der Güte und Gabrielle Philiponnet als Göttin der Schönheit vervollständigen dieses wahrhaft “göttliche” Quartett. Auch alle kleineren Rollen im Paradies sind vorzüglich besetzt.

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Guercoeur © Klara Beck

Der Chor hat eine wichtige Rolle in diesem Werk und wird der Opéra du Rhin vollkommen gerecht. In den Szenen im Paradies singt er aus dem Off”. Sein Klang schwebt wie aus himmlischen Sphären in den Zuschauersaal herein. In der Szene auf der Erde besticht er durch seine Genauigkeit und Durchschlagskraft in den Revolutionsszenen. Ob gemischter Chor, reiner Frauen- bzw. Männerchor, dieser Klangkörper, vorbereitet von Hendrik Haas, besticht durch seinen vollen runden Sound.

Für die szenische Umsetzung zeichnet Christof Loy verantwortlich und diese Aufgabe erfüllt der deutsche Regisseur mit großer Demut. Seine Personenregie passt sich vollkommen der Musik von Magnard an. Hier wird nichts gegen die Musik und in das Werk hineininterpretiert. In den Szenen im Paradies spielt Christof Loy mit der Statik, die zum Teil in der Musik herrscht. Die Bewegungen sind flüssig, aber getragen. Dabei sind es manchmal nur einzelne Gesten oder Blicke, die einer Szene zu einem grandiosen Moment verhelfen. Als Beispiel sei das zufriedene Lächeln der Göttin der Qual angeführt, wenn Guercoeur wieder zur Erde zurück darf: sie will ihn Schmerzen erleiden lernen. Wenn er diese dann durchlebt hat, verwandelt dieser Ausdruck sich allerdings in einen Ausdruck des Mitgefühls; da gibt es keine Schadenfreude!

Im Gegensatz dazu zeigt Loy aber auch die physische Gewalt, die mit der Revolution einhergeht. Die Szenen auf der Erde sind viel aktiver gestaltet, mit großen, zum Teil überschwänglichen Gesten.

Das Bühnenbild von Johannes Leiacker besteht aus einer großen, sich mit Momenten drehenden Wand, dunkel für die Szenen im Paradies, hell für diejenigen auf der Erde, und im Übergang zwischen beiden, sich wie ein Triptychon öffnend, zeigt sie eine Landschaft angelehnt an ein Bild von dem Maler Claude Gellée (1669). Ansonsten stehen nur vereinzelte Stühle auf der Bühne, auf denen die handelnden Personen Platz finden. Die Kostüme von Ursula Renzenbrink zeigen auf die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hin.

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Guercoeur © Klara Beck

Das Publikum feierte nicht nur alle Interpreten und Schaffenden überschwänglich, sondern auch den Komponisten, dessen Partitur der Dirigent beim Schlussapplaus hochhielt.

Es bleibt zu hoffen, dass auch andere große Opernhäuser sich des Werkes annehmen und mit derselben Begeisterung aufführen wie die Straßburger Oper.

Jean-Nico Schambourg, 2. Mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

 

Besetzung:
Guercoeur: Stéphane Degout
Giselle: Antoinette Dennefeld
Heurtal: Julien Henric
Vérité (Wahrheit): Catherine Hunold
Souffrance (Qual): Adriana Bignagni Lesca
Bonté (Güte): Eugénie Joneau
Beauté (Schönheit): Gabrielle Philiponnet  

 

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