Foto: Alexander Lubyantsev © Mikhail Nikitin
Im Kleinen Saal der Elbphilharmonie zeigt Lubyantsev ein abwechslungsreiches Programm. Mitreißende Stücke wechseln sich ab mit Werken, die an diesem Abend eher konzeptionell überzeugen als in der Umsetzung begeistern.
Elbphilharmonie Hamburg, Kleiner Saal, 29. Januar 2019
Alexander Lubyantsev, Klavier
von Guido Marquardt
Bach, Beethoven, Ravel, Liszt, Chopin – an einem einzigen Konzertabend. Das klingt nach Leistungsschau? Ja und nein: Alexander Lubyantsev liefert mit seinem Auftritt sowohl Indizien dafür, dass weniger vielleicht mehr gewesen wäre als auch klare Belege für ein ausgesprochen klug zusammengestelltes Programm. Aber der Reihe nach.
Am Anfang steht Bach, Präludium und Fuge As-Dur BWV 862. Das sind vielleicht nicht die prominentesten Stücke aus dem Wohltemperierten Klavier, aufmerken lässt jedoch das für Bach untypische As-Dur. Russischer Pianist, „romantische“ Tonart – man zieht vorsichtig die Klischeeschublade auf. Aber auch nur, um zu erleben, wie Lubyantsev sie ebenso sanft wie nachdrücklich wieder schließt. Er spielt das Präludium sauber und natürlich, vielleicht eine Idee zu schnell. In der Fuge wirkt er sehr konzentriert, gibt dabei an manchen Stellen etwas viel Volumen mit. Alles in allem bleibt das etwas unausgewogen, der Funke springt noch nicht recht über.
Gemäß Hans von Bülows berühmtem Bonmot geht es nun vom „Alten Testament“ zum „Neuen Testament“ der Klavierliteratur, sprich: zu Beethoven. Zum Auftakt der Sonate in f-Moll op. 2, der „kleinen Appassionata“, kommt Lubyantsev gut in Fahrt. Er zeigt im Allegro einen stark rhythmisierten Galopp, spannungsgeladen und energisch. Im Adagio streichelt er geradezu über die Tasten, die Musik gibt sich melancholisch-verträumt und berührt in ihrer Zartheit. Das Allegretto des 3. Satzes ist ähnlich kontrastreich angelegt wie der 1. Satz. Entschiedene Vorwärtsbewegung und verhaltenes Zaudern finden sich gleichermaßen. Lubyantsev gelingt es dabei nicht ganz, die Spannung aufrechtzuerhalten, es klingt ein wenig akademisch und spröde. Auch im 4. Satz ändert sich das kaum – energisch sollte es vorangehen, doch das wirkt an diesem Abend ein wenig aufgesetzt. Technisch sauber, doch am Ende bleibt ein ähnlicher Eindruck wie nach dem Bach-Einstieg.
Ganz anders Ravels Gaspard de la nuit. Endlich löst Lubyantsev sich von der reinen Technik und lotet die drei „Gedichte für Klavier“ in all ihren Facetten aus. Beginnend mit der Wassernixe Ondine, die Lubyantsev mit seiner perlenden Spielweise zum Leben erweckt, dass es im Saal beinahe platscht und gluckert. Wunderbar, wie er die Töne mal zärtlich tupft, dann munter und frisch aufspielt und schließlich auch immer wieder eine drohende Atmosphäre erzeugt, so als könne jederzeit ein gefährlicher Strudel alle in den Abgrund reißen. Man merkt Lubyantsev an, welches Vergnügen er daran hat, die volle Breite und Tiefe seines Instruments auszureizen.
Welch ein Stimmungswechsel beim zweiten Gedicht, „Le gibet“: Eindringlich skizziert das Stück, wie ein Gehenkter im Lichte der untergehenden Sonne baumelt. Ausweglos und trist. Der Clou ist freilich die Glocke, die unablässig die Szenerie begleitet. Immer und immer wieder wird das b trocken angeschlagen, wie ein Schluckauf des Todes ruft es uns in Erinnerung: Hier ist ein Mensch gestorben. Extrem fokussiert zeigt Lubyantsev sich, die Trostlosigkeit der Situation geht dank seiner einfühlsamen Darbietung unter die Haut.
Nicht weniger intensiv, aber von ganz anderer Stimmung dann das letzte vertonte Gedicht, „Scarbo“. Ganz gleich, ob Ravel hier tatsächlich eine „Karikatur auf die Romantik“ oder schlicht das schwierigste Solostück für Klavier überhaupt im Sinn hatte: Es ist ein Bravourstück ersten Ranges und ein ultimativer Test für das Virtuosentum des Interpreten. Lubyantsev meistert diese Aufgabe furios, spielt dabei technisch kontrolliert und lässt dann wohldosiert den wilden Kobold mit Wucht ausbrechen. Beeindruckend, wie er die dynamischen Möglichkeiten des gewaltigen Bechstein-Flügels voll ausspielt. Die Zuschauer gehen freudig erregt in die Pause.
Auch danach geht es mit einem technisch extrem anspruchsvollen Stück weiter, Liszts Mephisto-Walzer. Feurig und wuchtig, mit viel Pedaleinsatz, treibt Lubyantsev den wilden Ritt bis zur Ekstase. Mephisto spielt vor der Dorfgesellschaft auf, dann übernimmt Faust. Nur unterbrochen vom hellen Gesang einer Nachtigall, zeigt er zunächst perlende Verführung und schließlich unbändige Lust – was Faust dort am Ende im Wald vollzieht, ist ganz bestimmt kein zärtlicher Liebesakt, sondern ein roher Machtbeweis. Wir lauschen einem Getriebenen, wie Don Juan. Und auch Lubyantsev gibt ein Statement ab: keine halben Sachen. Fast noch mehr als beim Ravel ist er hier sehr präsent, seine souveräne Technik gibt ihm das Fundament, um sich voll auf das Werk und die in ihm erzählte Szenerie einzulassen.
Nach diesen Höhepunkten fällt es zunächst etwas schwer, sich auf Chopins Sonate h-moll op. 58 einzulassen. Der Pianist klingt hier beinahe schneidend, im Scherzo sogar etwas unsauber, bevor er sich dann in den beiden Schlusssätzen nochmals fängt. Was sich durch den ganzen Abend zieht, zeigt er auch hier: Lubyantsev beherrscht es meisterhaft, mit den Dynamiken eines Stücks zu spielen, Tonhöhen und Lautstärke erfrischend und lebendig auszureizen. Auch der stetige Wechsel zwischen langem Halten und Ausklingen-Lassen und abruptem Beenden eines Tons erscheint bei ihm ganz natürlich und schlüssig.
Überhaupt sind Lubyantsev Manierismen und Getue vollkommen fremd. Konzentriert und selbst in wildesten Passagen mit ruhigem Habitus, kommt er erst bei den Zugaben auch äußerlich ein wenig aus sich heraus und kündigt jungenhaft-charmant an, was er als Encore in petto hat – von einem feinen Tschaikowski über eine rasant vorgetragene Eigenkomposition bis zu einem beeindruckenden, voluminösen Schostakowitsch bietet er noch mal ein breites Spektrum an Stilistiken. Am Ende Standing Ovations eines begeisterten Publikums, das dem Abend überaus konzentriert folgte.
Und das Programm in der Gesamtschau? Lubyantsev geht es offensichtlich nicht darum, mit Vielfalt zu protzen. Vielmehr startet er den Abend mit Werken, die noch sehr stark der Form verpflichtet sind, bevor er mit Ravel und Liszt ganz im Sinne der starken Empfindung und der musikalischen Geschichtenerzählung das Herzstück dieses Programms offenlegt – wobei er das Herzstück auch mit dem meisten Herzblut ausgestaltet. Der Chopin am Ende führt dann beides zusammen. Hier stößt die Spannungskraft an gewisse Grenzen, gerät die Idee etwas besser als die Ausführung. Dennoch: Wer an einem einzigen Abend erleben wollte, welche Bandbreite ein Solo-Klavier abdecken kann, war hier genau richtig. Man darf neugierig bleiben, wo sich der 32-jährige Lubyantsev in diesem Möglichkeitsraum in der Zukunft positionieren wird.
Guido Marquardt, 30. Januar 2019, für
klassik-begeistert.de
Johann Sebastian Bach
Präludium und Fuge As-Dur BWV 862 / Das wohltemperierte Klavier, Band I
Ludwig van Beethoven
Sonate f-Moll op. 2/1
Maurice Ravel
Gaspard de la nuit / Drei Gedichte für Klavier nach Aloysius Bertrand
Franz Liszt
Der Tanz in der Dorfschenke / Mephisto-Walzer Nr. 1 S. 514
Frédéric Chopin
Sonate h-Moll op. 58