Fauré und seine Schüler: Palazzetto Bru Zane stellt die Flöte auf den Prüfstand

Alexis Kossenko, Querflöte, Vassilis Varvaresos, Klavier  Palazzetto Bru Zane, 19. April 2024

Fotos: © Matteo De Fina

Im  venezianischen Palazzetto Bru Zane wird, so verspricht es die Titelseite des Programmhefts, die Flöte bei Kammermusik der französischen Romantik auf den Prüfstand gestellt. Eine durchaus riskante Überschrift, lädt sie doch den musikalischen Prüftechniker implizit fast schon dazu ein, um jeden Preis Haare in der Suppe zu finden. Umso besser, so viel sei vorweggenommen, dass sich kaum welche finden lassen wollten – zumindest, sofern man über eine missglückte Zugabe hinwegblickt. Denn dem französischen Flötisten Alexis Kossenko und dem griechischen Pianisten Vassilis Varvaresos gelang ein ansonsten hochgradig überzeugender Abend voller musikalischer Einfühlsamkeit, mitreißendem Ausdrucks und mancher musikalischer Überraschung. Insofern: Prüfstand bestanden! 

„Die Querflöte auf dem Prüfstand“ – Kompositionen von Gabriel Fauré, Maurice Ravel, Georges Enesco, Charles Kochelin, Eugène Cools, Louis Masson und Alfredo Casella

Alexis Kossenko, Querflöte
Vassilis Varvaresos, Klavier

Palazzetto Bru Zane, 19. April 2024

von Willi Patzelt

Wer an venezianisches Musikleben denkt, hört im inneren Ohr wohl Claudio Monteverdi oder Giovanni Gabrieli – und natürlich nicht zuletzt auch Antonio Vivaldi. Und nicht wenige werden auch wohl an La Fenice denken – und das alles natürlich nicht zu Unrecht. Weitaus weniger Leute haben jedoch wohl die italienische Lagunenstadt als einen wesentlichen Ort der Rezeption von Musik der französischen Romantik im Bewusstsein. Und das freilich schon zu Unrecht. Denn inmitten von San Polo – unweit des Grabes von Claudio Monteverdi – befindet sich ein kleiner, auf den ersten Blick unscheinbarer Palazzetto, in dem man sich seit nunmehr 15 Jahren französischer Musik des ausgehenden 18. Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg widmet.

Venezianischer Schmuckkasten als Zentrum französischer Musik

Eben jener Palazzetto Bru Zane – bislang wohl namentlich in Deutschland primär Spezialisten bekannt – ist ein Bauwerk des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Einst für die venezianische Patrizierfamilie Zane als Privatcasino erbaut, steht er architektonisch noch für jene zu dieser Zeit bereits abklingende Blüte der einst mächtigsten Stadt im westlichen Mittelmeerraum.

© Matteo De Fina

Denn mit dem Niedergang der Serenissima erlebte auch der Palazzetto eine Phase des kulturellen, wie architektonischen Verfalls. Erst als im Jahre 2006 die französische Pharmaunternehmerin Nicole Bru über eine eigens gegründete Stiftung den Palazzetto kaufte und in Millionenhöhe historisch akkurat restaurieren ließ, erlebte das schmucke Anwesen eine Renaissance. Seitdem dient der Palazzetto – mit einem zwar kleinen, doch architektonisch umwerfenden Saal – als Konzertstätte, Forschungsinstitut und Kulturzentrum für die Musik der französischen Romantik.

© Matteo De Fina

Faurés Schüler – Musikwissenschaft als Ausgangspunkt musikalischer Projekte

Schon beim Betreten des Palazzetto merkt man, dass hier vor allem von einem musikwissenschaftlichen Ausgangspunkt her gearbeitet wird: Im Eingangsbereich ist eine Kopie der handschriftlichen Studentenliste der Kompositionsklasse des Pariser Konservatoriums aus dem Jahre 1900 ausgehängt. Der zuständige Professor: Niemand Geringeres als der große Gabriel Fauré (1845-1924).

In dieser Liste der eingeschrieben Studenten Faurés taucht unter anderen ein gewisser Maurice Ravel (1875-1937) auf. Um ihn herum finden sich Namen der zweiten Reihe – Kennern bekannt, doch insgesamt wenig verbreitet. Dass das Team des Palazzetto Bru Zane ausgehend von detaillierter Musikforschung Programme erarbeitet, ermöglicht insofern ein Kennenlernen mit großartigen Komponisten und ihren Werken, die im Schatten besonders großer Namen – womöglich sehr zu Unrecht – entweder in Vergessenheit geraten oder nie wirklich berühmt geworden sind. Der aktuell laufende Zyklus „Fauré und seine Schüler“ bietet seinem Publikum also wirklich hochgradig Spannendes.

© Matteo De Fina

„Was ist noch schlimmer als eine Flöte?“ …

… „Zwei Flöten!“. Zumindest behauptete das einst Mozart, meinte er dabei jedoch vor allem die Flöte als Teil eines homogenen Orchesterklangs. Man kann sich vorstellen, worauf Mozart hier – wohl etwas überspitzt – abstellte: Eine Flöte kann in sehr hohen Lagen sehr laut, schnell zu laut und zu hoch, ja regelrecht unangenehm sein – zumal in einem kleinen, akustisch nicht nur optimalen Saal wie dem des Palazzettos Bru Zane. Ein Glück insofern, dass es dem erfahrenen Alexis Kossenko an dem Abend bestens gelingt, dieses Vorurteil nicht allzu sehr zu bestätigen.

© Matteo De Fina

Kossenko brachte – fast könnte meinen, um Mozart endgültig augenzwinkernd zu widerlegen – (neben seinem modernen Instrument)  also gleich eine zweite Flöte mit, nämlich ein älteres Modell des französischen Flöten-Stradivarius  Louis Lot (1807-1896). Da es gegen den modernen Konzertflügel des Palazzettos  akustisch wohl chancenlos geblieben wäre, konnte es in drei Solostücken aus dem Zyklus Les Chants de Nectaire von Charles Koechelin (1867-1950) umso mehr seinen warmen und großen Klang ausspielen. In diesen durchaus seltsamen, sehr heterogenen, musikalisch irgendwo zwischen Volksweise und Handyklingelton changierenden, aber dennoch hochinteressanten Miniaturen gelingt es Kossenko, den ganzen Klangfarbenreichtum des Instruments darstellen. Von strahlenden Höhen bis zu wärmster, dunkelster Tiefe reizt Kossenko vollständig das Ausdrucksspektrum aus. Ein beeindruckendes Hörerlebnis!

Wer ist Eugène Cools?

Insgesamt dürfte Professeur Fauré mit seinen Schützlingen sehr zufrieden gewesen sein. Denn es ist beeindruckend zu hören, welches stilistische Spektrum diese Kompositionsklasse beherrschte. Von harmonisch konventioneller Melodiösität bei Louis Masson (1878-1957) – sein Andante pour flûte et piano wird in seiner schlichten Schönheit zum Ruhepunkt des Abends – bis hin zu den typisch verträumt-mystischen Klängen von Georges Enescu (1881-1955) zeigt sich die ganze Kreativität dieser kulturellen Blütezeit.

© Matteo De Fina

In Alfredo Casellas (1883-1947) Sicilienne et Burlesque pour flûte et piano schaffen Flöte und Klavier eine hochgradig spannungsreiche, ja regelrecht gruselige Atmosphäre, die – das Programm abschließend – noch einmal eine ganz neue, zukunftsweisende Stoßrichtung andeutet. Schade nur, dass hier Alexis Kossenko dem musikalischen Vortrag erst einmal eine ausführliche Deutung des Werkes voranstellt. Ansonsten jedoch sind seine Erläuterungen inhaltlich sehr erhellend und durchaus unterhaltsam. Besonders erheiternd: Kossenko gesteht augenzwinkernd, nicht nur die Flötensonate von Eugene Cools (1877-1936) nicht gekannt zu haben, sondern auch den Komponisten selbst nicht. Und, wie sogleich musikalisch unter Beweis gestellt wird, ganz zu Unrecht. Die Sonate in ihrer bemerkenswerten Zartheit und klanglichen Vielfarbigkeit ist wohl die größte Entdeckung des Abends.

Französische Romantik: Glenn Gould und Sergej Prokofjew?!

Bezüglich seines pianistischen Konterparts darf sich Kossenko hochgradig glücklich schätzen, denn auch der griechische Pianist Vassilis Varvaresos überzeugt auf ganzer Linie. Ganz besonders erfreulich: Neben vieler Neuentdeckungen ist Varvaresos auch solistisch mit einem heutzutage absoluten Klassiker des Repertoires zu erleben: Maurice Ravels La Valse. Der griechische Pianist zeigt, dass die Klavier-Bearbeitung jenes groß angelegten Orchesterwerks – vom Komponisten 1920 selbst geschaffen, doch erst mit Glenn Gould in den 1970er Jahren so wirklich berühmt geworden – ihrem großen, orchestrierten Bruder klanglich in nichts nachstehen muss. Varvaresos’ unglaubliche Spielfreude, seine Differenzierungen im Anschlag und sein technische Perfektion lassen La Valse durchaus – glaubt man den nicht enden wollenden „Bravo“-Rufen – zum Höhepunkt des Abends werden. Und  dennoch: Varvaresos hätte es – in Anbetracht seines umwerfenden Spiels – durchaus nicht nötig gehabt, durch mehrmaliges Mitsummen der Walzer-Melodien Glenn Gould zu imitieren.

© Matteo De Fina

Dass als Zugabe der langsame Satz aus Sergej Prokofjews Flötensonate geboten wird, ist dann freilich etwas irritierend, sprengt diese Werkwahl doch das Konzept des Abends und missachtet dabei die Intention der Konzertreihe und des Palazzettos. Denn dieser verrichtet in Venedig – und darüber hinaus – wirklich Großes. Mit Koproduktionen werden beispielsweise Opern in ganz Europa auf die Bühne gebracht und bemerkenswerte Einspielungen vorgelegt. Man könnte nun denken, so kämen „lediglich“ unbekanntere Namen zum Vorschein. Aber weit gefehlt:

© Matteo De Fina

Hätten Sie gewusst, dass niemand Geringeres als der große Jules Massenet nicht weniger als 22 Orchesterlieder komponiert hat? Ohne den Palazzetto Bru Zane, der im vorletzten Jahr die Weltersteinspielung vorgelegt hat, wüsste es wohl kaum jemand. Man darf insofern sehr gespannt sein, was im venezianisch-französischen Palazzetto noch so alles in den kommenden Jahren zutage gefördert wird. Die Flöte hat auf diesem Prüfstand bestanden und der Palazzetto besteht seine eigenen Tests immer wieder regelmäßig auf’s Neue.

Willi Patzelt, 25. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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