Elbphilharmonie, 2. März 2020
Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
Antoine Tamestit Viola
Dirigentin Alondra de la Parra
Foto: Felix Broede (c)
Grażyna Bacewicz, Overture
Béla Bartók, Konzert für Viola und Orchester Sz 120 / Revidierte Fassung
Claude Debussy, Prélude à l’après-midi d’un faune
Igor Strawinsky, L’oiseau de feu (Der Feuervogel) / Sinfonische Suite (Fassung von 1919)
Zugaben
Béla Bartók, Tanzlied / aus vierundvierzig Duos für zwei Violinen Sz 98
Michail Glinka, Ouvertüre zu »Ruslan und Ludmila«
von Andreas Schmidt
Woran liegt es – doch nicht an dieser großartigen Dirigentin, an diesem großartigen Orchester, an diesem großartigen Solisten? Beim überwältigend schönen und begeistert gefeierten Konzert der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter Stabführung von Alondra de la Parra blieben am Montag im Großen Saal der Elbphilharmonie mindestens 100 der 2100 Plätze leer – obwohl das Konzert als „ausverkauft“ galt.
Diesen kleinen Minustrend in der Elbphilharmonie beobachtet klassik-begeistert.de seit ein paar Monaten – vor allem bei Abo-Konzerten des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg und des NDR Elbphilharmonie Orchesters. Fast immer, egal zu welcher Jahreszeit, bleiben mindestens 50 bis 100 Plätze leer. Schwer vorstellbar, dass an diesem Montag mindestens 100 Elphi-Besucher krank waren und keinen Ersatz schicken konnten. Warum lassen immer mehr Menschen ihre teuren Elphi-Karten „verfallen“?
Es kann nicht an den Musikern dieses Abends liegen. Die Kammerphilharmonie Bremen ist eines der besten deutschen Orchester – weit vor dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg, etwa auf Augenhöhe mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester, aber vor allem in der piano-Kultur noch ausgereifter als das Hausorchester der Elphi.
Der Pariser Bratschist Antoine Tamestit ist der beste Vertreter seiner Kunst weltweit: Was er an diesem Abend aus seinem Instrument – einer Viola von Antonio Stradivari aus dem Jahr 1672, die ihm von der Habisreutinger- Stiftung zur Verfügung gestellt wird – herausholt an vor allem tiefen, nougatfarbenen Tönen, ist zum Weinen schön. So hinreißend und hingebungsvoll kann nur dieser Franzose das Konzert für Violine und Orchester von Béla Bartók spielen – bravo! Ganz wunderbar ist auch, wie Tamestit immer wieder im Wiegeschritt zu den schönsten Läufen ansetzt. Das ist Musikalität vom Bogen bis in die Fußspitzen.
»Sie sind alle fantastisch – großartige Musiker!« So begeistert zeigte sich 2016 die mexikanische Dirigentin Alondra de la Parra nach den ersten Proben mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Damals feierte sie ihr Debüt bei diesem Klangkörper. Mittlerweile reißen sich die Spitzenorchester von New York bis Tokio um die charismatische Musikerin, die von 2017 bis 2019 Chefdirigentin des Queensland Symphony Orchestra war. Jetzt kehrte Alondra de la Parra ans Pult der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen zurück – auch mit Igor Strawinskys »Feuervogel«
In einem Interview mit der Deutschen Welle sagte die Mexikanerin: „Für mich hat jeder Dirigent – jeder Mensch eigentlich – männliche wie weibliche Eigenschaften und beim Dirigieren braucht man beide, weil die Musik sie vorsieht. Also wenn Sie einen großen Dirigenten sehen, der auch ein Mann ist, sehen Sie immer auch seine femininen Qualitäten. Und auch umgekehrt.“
An diesem Abend wird deutlich, dass de la Parra einerseits wunderbar exakt und präzise dirigiert. Andererseits verkörpert sie einen Dirigierstil, den ihre männliche Kollegen kaum kopieren könnten: Sie tanzt mit den Beinen und mit den Füßen, während sie fast wie eine Balletttänzerin gleichzeitig tänzerische Anweisungen mit den Armen und Händen gibt. Ja, ihre Arme schwingen, sie bewegen sich weich und fließend. Dabei fällt Frau de la Parra immer wieder einmal eine Haarsträhne ins Gesicht, die sie dann nach einiger Zeit mit der linken Hand wegstreicht.
Musikalisch haben meinem Begleiter, dem klassik-begeistert.de-Autoren Guido Marquardt, und mir vor allem die Prélude à l’après-midi d’un faune von Claude Debussy gefallen. Phantastisch, wie gut das Orchester und die Dirigentin, die Dirigentin und das Orchester harmonierten. Ein großes Sonderlob gebühren der 1. Flötistin, der 1. Oboe und der 1. Klarinette – später bei Strawinsky auch dem 1. Fagott und dem 1. Horn.
Das Sympathischste an Alondra de la Parra: Die Frau kann lächeln und lachen, während sie dirigiert – und diese Freude an der Musik und an den Menschen, die sie machen, überträgt sich auf alle im Großen Saal. Guido und ich haben uns nach der Pause extra einen der vielen freien Plätze hinter der Bühne gesucht, um die energetische Frau genau im Blick zu haben.
Wikipedia.de schreibt: „Alondra de la Parra Borja (* 31. Oktober 1980 in New York) ist eine mexikanische Dirigentin. 2017 bis 2019 war sie Chefdirigentin des Queensland Symphony Orchestra. Als Alondra zwei Jahre alt war, zog ihre Familie nach Mexiko. Mit sieben Jahren begann sie Klavier zu spielen. Mit 13 erhielt sie Cello-Unterricht, mit 16 besuchte sie eine Privatschule in England. Alondra de la Parra war zweimal verheiratet, darunter von 2008 bis 2010 in erster Ehe mit Carlos Zedillo, dem Sohn Ernesto Zedillos, der 1994 bis 2000 Präsident von Mexiko war. Mit ihrem Partner Teo de María y Campos hat sie zwei Söhne, die 2015 und 2018 zur Welt gekommen sind.“
Zu ihren wichtigsten Debüts der laufenden Saison zählten Konzerte mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien im Wiener Musikverein und mit der Staatskapelle Dresden im Rahmen des ZDF-Adventskonzerts in der Dresdner Frauen- kirche. In zwei Wochen dirigiert sie erstmalig das Orchestre Philharmonique du Luxembourg; im Juni kehrt sie ans Royal Opera House Covent Garden in London zurück.
Höhepunkte der vergangenen Saisons waren ihr Debüt beim Beethovenfest Bonn sowie Engagements beim Verbier Festival Orchestra und dem BBC Philharmonic sowie – gemeinsam mit der Camerata Salzburg – die Weltpremiere der neuen Produk tion T.H.A.M.O.S bei der Mozartwoche Salzburg.
In der Elbphilharmonie war Alondra de la Parra zuletzt im Dezember 2018 mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg zu erleben – ebenfalls ein packendes, ein mitreißendes, ein unvergessliches Konzert, das mich vollends begeisterte. So viel Power war bislang noch nie in der Elphi zu hören gewesen: Silvestre Revueltas’ Filmkomposition „La noche de los Mayas“ brachte das Haus zwei Tage hintereinander zum Kochen.
Andreas Schmidt, 3. März 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Ausverkauft! Und leere Plätze. Vielleicht war es der Corona-Virus, der viele Menschen zu Hause hielt. Beim Concertgebouworkest war es wohl der Sturm. Die Bahn hatte alle Fernstrecken eingestellt. Aber was ist mit den Konzerten der Elbphilharmoniker? Nicht erkärbar, aber es sind auch nicht viel Plätze leer.
J. Capriolo
Lieber Herr Capriolo,
kaum vorstellbar, dass wegen „Corona“ bei diesem Top-Konzert mehr als 100 Plätze frei blieben. Vor allem beim Philharmonischen Staatsorchester Hamburg bleiben bei den Abo-Konzerten seit längerem meist mehr als 50 Plätze frei, oft auch über 100.
Beim NDR Elbphilharmonie Orchester waren bei den Abo-Konzerten zuletzt meist auch mehr als 50 Plätze frei. Wir dürften hier eher von einem (dekadenten) Wohlstandsphänomen und Desinteresse der Kartenkäufer und Abo-Besitzer sprechen.
Andreas Schmidt
Herausgeber