Die Komische Oper Berlin lässt es mit der Rarität „Hamlet“ vergnüglich krachen

Ambroise Thomas, Hamlet  Komische Oper Berlin, 16. April 2023 Premiere

Fotos: Hamlet © Monika Rittershaus

Komische Oper Berlin, 16. April 2023 – Premiere

Hamlet
Ambroise Thomas

Oper in fünf Akten [1868]
Libretto von Michel Carré und Jules Barbier


Marie Jacquot, Musikalische Leitung
Nadja Loschky, Regie
Thomas Wilhelm, Choreographie
Étienne Pluss, Bühne
Irina Spreckelmeyer, Kostüme
Jean-Christophe Charron, Chöre
Olaf Freese, Licht

Tijl Faveyts Claudius, König von Dänemark     
Karolina Gumos,  Königin Gertrude  
Huw Montague Rendall, Hamlet  
Jens Larsen, Der Geist
Stephen Bronk, Polonius
Liv Redpath, Ophélie 
José Simerilla Romero, Laërte
Frederic Jost, Horatio     
Johannes Dunz,
Marcellus

Ferhat Baday, Erster Totengräber
Ferdinand Keller, Zweiter Totengräber
Kjell Brutscheidt, Yorick, der Narr
Andrii Zubchevskyi, Claudius Double
Claudia Greco, Gertrude Double
Lorenzo Soragni, Hamlet Double
Ana Dordevic, Ophélie Double
Marcus Mundus, Geist Double

Orchester, Chorsolisten und Komparserie der Komischen Oper Berlin

von Sandra Grohmann

Um es vorweg zu nehmen: Die Komische Oper Berlin ist nicht nur die einzige Oper Berlins, die weiß, was Glamour ist. Sie ist auch nicht nur das Haus mit dem schrägsten Publikum, das dafür sorgt, dass es außer den wunderbaren Blumenbouquets vor dem Eingang zum ersten Rang auch endlich wieder extravagante Abendgarderobe zu begucken gibt: Und damit meine ich nicht wie etwa in München den langweiligen tiefen Ausschnitt zwischen den Satinpuffärmeln, sondern die Herren mit dem Samtjacket über der Sporthose, die Leute im roten Paillettenkleid und die im karierten Anzug – und vor allem die Mischung aus alledem.

Nicht nur das bekommt man dort also geboten: Vor allem ist die Komische Oper Berlin nämlich schon lange nicht mehr das Haus, das man allein wegen der hervorragenden, Rampensingen vermeidenden Inszenierungen besuchte. Inzwischen sind hier die musikalischen Glücksmomente zu Hause. Hier dirigierte der spätere Chef der Berliner Philharmoniker, hier singen die Weltstars von morgen, die man früher eher an der Deutschen Oper oder der Staatsoper Unter den Linden zu finden hoffte. Wir feiern Sängerfeste an der Komischen Oper Berlin!

Den Anlass bietet heute der Hamlet von Ambroise Thomas, eine früher sehr populäre, in unserer Zeit jedoch äußerst selten, kürzlich indes auch in Paris und Lüttich gegebene romantische französische Oper, die alles hat, was ein Opernkracher braucht: Pomp und Zartgefühl, rhythmische Raffinesse und kommentierende Orchesterinstrumente, sich in die Lüfte schwingende Melodiebögen und dramatische Herzklopfmomente. Wer hier nicht auf seine Kosten kommt, sollte schleunigst zum Hörgeräteakustiker gehen.

Hamlet © Monika Rittershaus

Und das sind die großartigen Sängerinnen und Sänger, die die wohl hinlänglich bekannte, hier opernhaft eingekürzte Story auf die Bretter bringen und aus ihren Kehlen schleudern: Neben den hochgeschätzten Ensemblemitgliedern, namentlich Tijl Faveyts mit seinem satten, Suchtpotential aufweisenden Bass (ja, ja, ich hab’s mit den Bässen), der die schönsten Kantilenen des Abends geboten hat, und Karolina Gumos – seit langen Jahren interpretatorisch und stimmlich immer mit Genussgarantie, mag sie inzwischen gelegentlich auch ein wenig metallisch klingen – neben diesen Hausgewächsen also glänzen in den Hauptpartien der Brite Huw Montague Rendall und die atemberaubende US-Amerikanerin Liv Redpath.

Montague Rendall (nur Huw ist der Vorname, das ist wohl Walisisch und spricht sich genauso aus wie Hugh, und das bringen wir ja alle spätestens seit Notting Hill fehlerfrei über die Lippen) – Montague Rendall also verfügt über einen Bariton mit tenoraler Klarheit, fast knabenhaft gefärbt, der mit dem sich daraus ergebenden Schwingen zwischen den Welten geradezu ideal ist für die Rolle des Hamlet. Er ist dabei nicht so kräftig wie etwa der samtweiche Bass (ja doch, ich hab ja gesagt, ich hab eine Schwäche für Bässe) seines Bühnenfreundes Frederic Jost alias Horatio (meine Güte, den wollen und werden wir demnächst auch mal in einer größeren Rolle hören!), aber er überstrahlt das Orchester meist mühelos. Was ihn zu einem Rundum-Erlebnis werden lässt, ist indes sein Spiel: Da jagt einer über die Bühne, über Treppen und Gräber, fast so wild und verrückt wie seinerzeit Lars Eidinger in der Ostermeier-Inszenierung des Shakespear’schen Hamlet in Avignon. Er kauert sich auch wie abwesend in eine Ecke, lässt seine Augen aufblitzen und streichelt gedankeverloren seinen Narren.

Hamlet © Monika Rittershaus

Dieses schauspielerische Können war neben den Stimmen die Sensation des Abends. Was erleben wir doch jetzt für wirklich irre gute Sängerschauspieler. Die lange Felsenstein-Tradition des Hauses, Musik-Theater zu machen, lebt so auf das Überzeugendste und Beglückendste weiter.

Die Inszenierung von Nadja Loschky stützt das. Wie alle guten Inszenierungen geht sie über das, was Regie und Dramaturgie ihr im Programmheft-Interview zuschreiben – wobei dies hier erfreulich viel ist –, noch hinaus. Die Bezüge, die auf der Bühne hergestellt werden, sind mannigfaltig. Sie weisen, mit der im Libretto nicht vorgesehenen stummen Figur des Narrs, einerseits auf Shakespeares Dramenstruktur, nehmen stilistisch andererseits die Zeit der Entstehung in Bezug und thematisieren drittens durch die verfremdenden Brüche – Groteskes, Totengräber-Auftritte, komische Einlagen – das Spannungsfeld zwischen beidem und auch zwischen den Anforderungen der Grand Opéra, der Opéra Comique und dem Drame Lyrique: dass Shakespeares Text tiefsinniger ist als ein romantisches Opernlibretto, bedarf wohl keiner Erläuterung. Die präzise auf die Musik geführte Personenregie für die Solisten wie für die ausgezeichneten Chöre vermag dem Werk von dieser Tiefe Einiges zurückzugeben.

Hamlet © Monika Rittershaus

Das trifft auch auf die Balletteinlagen zu, insbesondere in Ophélies Wahnsinns-Akt: Der vierte Akt ist ganz dieser Figur gewidmet, weil Ambroise Thomas sonst nicht auf die damals in Paris obligatorischen fünf Akte gekommen wäre, nebst ebenfalls obligatorischem Ballett. Man kennt das von Verdis Don Carlos in der französischen Originalfassung, aber es ist schon immer wieder ulkig, wie streng diese Form beachtet werden musste. Keine fünf Akte – keine Aufführung. Also machte Ambroise Thomas aus einem Akt zwei. Und natürlich auch: Kein Ballett – keine Aufführung. Manchmal werden die Ballette der Grand Opéras heute gekürzt, aber im vierten Akt des Hamlet wird heute die Aufgabe über die von Tänzern übernommenen Double-Rollen geradezu mustergültig gelöst: Hamlet und Ophélie sehen sowieso unentwegt Bilder, sehen mögliche Handlungsverläufe, und das Ballett gibt zusätzliche Gelegenheit, diese Vorstellungen zu visualisieren – in einer zärtlichen und rührend verspielten Liebesszene zwischen den beiden.

Gerahmt wird dies von Ophélies Gesang. Liv Redpath, die bei Klassik-begeistert schon zum Jahreswechsel 22/23 gefeiert wurde (https://klassik-begeistert.de/american-bach-soloists-liv-redpath-sopran-alex-rosen-bass-herbst-theatre-san-francisco-usa-31-dezember-2022/), ist schlicht ein Stimmwunder. Ich finde sie nicht so warm im Ton wie der Kollege Fischer – aber die von ihm beschriebene Wolkenkratzer-Lage beherrscht sie auch als wahnsinnig werdende Verstoßene. Gerade die klare, in meinen Ohren eher kühle und damit eindeutige Sopran-Stimme finde ich erfrischend, und sie passt überdies sehr gut zum Bariton von Montague Rendall und zu der ausgesprochen jugendlichen Rolle. Spaß macht übrigens auch die im gemeinsamen Musizieren vor allem mit der Flöte auffällige perfekte Intonation. Redpath wird vom Publikum völlig zu Recht frenetisch gefeiert.

Die vorzügliche und durchdachte Regiearbeit lässt schließlich aufatmen, weil die typischen, auf sozialen Realismus zielenden und inzwischen zu Klischees verkommenen Tableaus, wie wir sie von den verehrten männlichen Altregisseuren nun lange genug gesehen haben, ebenfalls endlich wegfallen. Kaum zu beschreiben das Geschenk der folgenden beiden Sätze von Dramaturgin Yvonne Gebauer: „Wenn man die Subjektivierung der Perspektive in der Inszenierung nicht vornimmt, landet man bei dieser Oper sehr schnell in der Repräsentation der Gesellschaft und der äußeren Wirklichkeit (…). Diese Art von äußerem Realismus (…) hat uns aber nicht interessiert“. Ich mag mich irren, aber es könnte eben doch ein anderer, lange vermisster Blick sein, mit dem wie hier Dramaturginnen, Regisseurinnen und Dirigentinnen Theater gestalten – und das, obwohl Nadja Loschky Schülerin von Neuenfels war. Anders als seinerzeit in dessen „Macht des Schicksals“ an der Deutschen Oper Berlin (eine damals zu Recht gefeierte psychologisierende Ausdeutung, die ebenfalls mit Doubles der Figuren arbeitete) bestehen die Zutaten, die die Regisseurin dem Hamlet hinzufügt, eben nicht aus realistischen, gesellschaftskritischen Szenen, und wir sehen dankenswerterweise nicht die soundsovielte Bühnenvergewaltigung, obwohl es einen Moment lang danach aussieht. Stattdessen kommt – zum Stoff sehr passend – durch verschiedene Motive ein irrationales, fantastisches Moment hinzu: Totengräber, teils kopflos, ein verfremdender roter Samtvorhang, Erdhaufen im Schlossentree, der Narr. Sicherlich hätten es auch andere Bilder sein können, aber diese hier passen jedenfalls exzellent zum Stoff und setzen viele Assoziationen frei.

Last but not least das Orchester der Komischen Oper, aus dem Marie Jacquot große Gefühle und feine Akzente herausholt – manchmal ein wenig zu laut, vor allem wenn das von Ambroise Thomas erstmals in überhaupt einer Oper eingesetzte Saxophon seinen Einsatz hat, aber immer einfühlsam und sehr präzise im Zusammenspiel mit der Bühne. So lassen wir uns diese eingängige, gleichwohl originelle Musik gefallen. Das ist ganz große Oper, und das macht ganz großes Vergnügen.

Sandra Grohmann, 17. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Nächste Vorstellungen am 6., 14., 20. und 31.05. und 7.6.2023

American Bach Soloists, Liv Redpath, Sopran, Alex Rosen, Bass Herbst Theatre, San Francisco, USA, 31. Dezember 2022

Wolfgang Amadeus Mozart, Così fan tutte Komische Oper Berlin, Premiere am 11. März 2023

Die Rache der Fledermaus, nach Die Fledermaus von Johann Strauß in einer Bearbeitung von Stefan Huber und Kai Tietje Komische Oper Berlin, Premiere am 10. Februar 2023

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert