Foto: Andrés Orozco-Estrada © Julia Wesely
Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 1. Oktober 2021
Gustav Mahler, Symphonie Nr.3 d-Moll
Andrés Orozco-Estrada, Dirigent
Sarah Connolly, Mezzosopran
Wiener Symphoniker
Wiener Sängerknaben
Damen der Wiener Singakademie
von Jürgen Pathy
Ein Dirigent hat es nicht immer leicht. Auch wenn Andrés Orozco-Estrada am Ende übers ganze Gesicht strahlt, der Gipfelsturm war an diesem Abend mehr als nur beschwerlich. Den Kolumbianer trifft allerdings keine Schuld. Was da gestern im Großen Saal des Wiener Konzerthauses während Mahlers Dritter vorgefallen ist, fällt wohl eher unter die Rubrik: Fehlplanung. Dabei hatte alles so berauschend begonnen.
Hochs und Tiefs wechseln im Minutentakt
Nachdem Estrada fünf Minuten verspätet die Bühne betritt, fließt sofort die Energie. Die Hörner und Pauken, mit denen Gustav Mahler seine gewaltige Dritte abrupt eröffnen lässt, strömen und donnern gewaltig. Sie symbolisieren das Aufwachen, den Sommer, der ins Lande zieht. Eine Programmatik, die Gustav Mahler zwar offiziell wieder gestrichen hat, die allerdings ganz klar den ganzen ersten Satz prägt. Hinzu strömen die Posaunen, die wie an einer imaginären Schnur von Estradas Energie zehren und mit ihrer melancholischen Melodie den zweiten emotionalen Höhepunkt setzen. Der erste hat einen bereits vor dem ersten Ton übermannt.
War man es bislang gewohnt, nur mit FFP2-Masken den Konzertsaal betreten zu dürfen, sind mit 1. Oktober die Restriktionen gefallen. Zumindest in Wien. Für Veranstaltungen über 500 Personen entfällt die Maskentragepflicht aufgrund der 2G-Regel gänzlich. Ein Anblick, der erstmal befremdend wirkt, aber auf eine alte Normalität hoffen lässt.
Der Tiefschlag folgt allerdings kurz später. Während Estrada, der seit dieser Saison als Chefdirigent der Wiener Symphoniker ins Rampenlicht tritt, das Orchester im feinsten Piani schweben lässt, grätschen ihm Pop und Rock dazwischen. Wenzel Beck, ein neues Gesicht am österreichischen Pop-Himmel, spielt zeitgleich im kleinen Berio-Saal. Dabei lässt es der Newcomer ordentlich krachen. Zum Leidwesen der Anwesenden.
Dass das Dröhnen der energischen Drumbeats im darüber liegenden Großen Saal stören könnte, hätte den Organisatoren im Vorfeld klar sein müssen. Da nutzt es auch nichts, während des Konzerts noch alle Hebel in Bewegung zu setzen. Selbst 96 Dezibel, die an eine Techno-Party erinnern, rauben jegliche Spannung und Konzentration – nicht nur der Klassik, auch dem beherzten Auftritt zwei Stockwerke tiefer. Das sei der Messwert gewesen, beteuert der unglückliche Drummer der Popband, nachdem er von einer Verantwortlichen des Hauses aufgefordert worden sei, einen Gang runter zu schalten.
Orozco-Estradas ungewollter Meisterkurs
Was bleibt, ist letztendlich eine Lehrstunde in Disziplin und Dirigat. Auch wenn der Sitzplatz in Reihe 2 im Parterre akustisch eher suboptimal gewählt wurde, direkt hinter dem Dirigentenpult lässt er tief eintauchen in die Kommunikation zwischen Orchester und Dirigent. Dirigieren – im Speziellen so ein Ungetüm wie Mahlers Dritte – gleicht einem Marathon.
Von Anfang bis Ende: kaum Erholung, ständig unter Strom. Kein Wunder, dass der feurige Südamerikaner, dem die Schweißperlen im Gesicht hängen, am Ende die Hände in den Himmel reißt, als hätte er gerade den Mount Everest bezwungen und zugleich mit Yetis gerungen. Dass dabei der letzte Satz, ein rund 30-minütiger Traum eines Adagios, verschleppt wurde, darf unter diesen Umständen keine Beachtung finden.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 2. Oktober 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at