Konzert für Violine und Orchester e-Moll, Felix Mendelssohn Bartholdy / Sinfonie Nr. 4 Es-Dur, Anton Bruckner
Laeiszhalle, Hamburg, 11. November 2016
Das Schöne hat seinen Preis. Das gilt leider auch für Konzerte der Weltklasse, auch in der Hamburger Laeiszhalle. Dort gaben die Ausnahmegeigerin Anne-Sophie Mutter und das phänomenale London Philharmonic Orchestra unter der Leitung des 33 Jahre alten Robin Ticciati ein Konzert der Extraklasse. Die über 2000 Sitzgelegenheiten der ehrwürdigen Laeiszhalle am Johannes-Brahms-Platz waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Es war eine Sternstunde für den Saal, der ab 2017 musikalisch in die zweite Reihe treten wird, wenn die Elbphilharmonie in der Hamburger Hafen-City eröffnet.
24 Euro kostete am Freitagabend ein Hörplatz, auch an der Abendkasse. Zum Vergleich: Das phantastische NDR Elbphilharmonie-Orchester verkauft die billigsten Abendkarten für 5,50 Euro für Studenten und Bedürftige. Und beim teuersten Platz mussten die Hanseaten und alle, die zum Teil viele hunderte Kilometer zurückgelegt hatten, sogar 185,90 Euro hinlegen. Ein stolzer Preis für die Hansestadt, verglichen mit der Wiener Staatsoper aber noch recht „günstig“.
Anne Sophie Mutter ist ein Phänomen! Sie hat alles erreicht, was man sich als klassische Musikerin überhaupt wünschen kann. Aber sie erfindet sich immer wieder neu – ob als ambitionierte Interpretin zeitgenössischen Repertoires, als Mentorin vielversprechender Nachwuchstalente ihrer Stiftung oder erst jüngst als Protagonistin der Club-Reihe »Yellow Lounge« der Deutschen Grammophon. In die Laeiszhalle kam sie allerdings ganz klassisch – mit einem der schönsten Violinkonzerte im Gepäck und an der Seite eines der besten Orchester Europas: So war „London Philharmonic Orchestra, Mutter und Mendelssohn“ eine durchaus bekannte, aber auch absolut überzeugende Kombination.
26 Minuten Anne-Sophie Mutter auf ihrer Stradivari: Sie spielte Felix Mendelssohn Bartholdys Konzert für Violine und Orchester in e-Moll. Und als Zugabe: Johann Sebastian Bachs Giga aus der d-Moll Solopartita, ohne Orchester. Vier Minuten. Das war quantitativ recht übersichtlich, aber ein Hörgenuss der Extraklasse. In der Laeiszhalle, wo es sonst wie leider in fast allen Konzertsälen der Welt, mittlerweile öfter etwas undisziplinierter zugeht, war es fast mucksmäuschenstill. Ja, die Zuhörer wagten kaum, sich zu bewegen und unterdrückten die Hustenreize, so gut es ging. Das war Spannung pur in dem 108 Jahre alten Saal.
Anne-Sophie Mutter, in grünem Abendkleid, spielte auf ihrem Instrument wie von einem anderen Stern. Sinnlich, voll, weich bis sanft-rauh erklangen die Töne ihres kleinen Kindes im Saal. Die Wechsel vom piano zum forte: himmlisch. Die Bögen vom Pianissimo zum Expressivo: herzerwärmend. Da war eine Präsenz und Brillanz im Spiel, die elektrisierte. Die Pizzicati: einfach betörend.
Aber natürlich könnte man Mendelssohn und Bach heutzutage mit leichterem Bogen spielen. Und die historische Aufführungspraxis, heute von immer mehr Künstlern in puncto Spielauffassung und Ästhetik geschätzt, ist nicht Mutters Ding. „Beindruckend war es natürlich trotzdem, wie mühelos Mutter in die allerhöchsten Lagen sauste oder wie auf viele Arten sie den Bogen springen und tanzen ließ“, schreibt das „Hamburger Abendblatt“.
Nach dem Schlusston herrschte fast eine halbe Minute absolute Stille in der Laeiszhalle. Die Geigerin guckte noch ernst, dann huschte ein kleines Lächeln über ihr Gesicht, und es gab einen Riesenapplaus des überwiegend norddeutschen Publikums. Aber mit Bravo-Rufen hielten sich die ProArte-Zuschauer zurück – da gibt es deutlich mehr Euphorie und Empathie bei preiswerteren Sternstunden in der Laeiszhalle mit ihrer wunderbaren Akustik. Schickt es sich nicht, auf den teureren Plätzen seiner Emotion Ausdruck zu verleihen?
Die Hamburgerin Sabine Fehling, 59, die mit ihrem Ehemann Peter „Peach“ Fehling, 71, das Konzert in der vierten Reihe verfolgte, war sehr angetan von Mutters Arbeit. „Das Violinkonzert von Mendelssohn ist ein Traum, ich habe es schon zehn Mal live gehört“, sagte die passionierte Altistin des renommierten Symphonischen Chores Hamburg, der am 10. Dezember 2016, um 19 Uhr das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach in der Laeiszhalle zu Gehör bringen wird.
„Anne-Sophie Mutter spielt hervorragend“, sagte die Klassik-begeisterte Hamburgerin, „aber ich höre noch lieber die jungen Musikerinnen: Die spielen das Stück leichter, da hört man mehr das Staunen über die Musik. Ich habe Mendelssohns Violinkonzert vor 17 Jahren von der damals 19 Jahre alten Hillary Hahn in der Laeiszhalle gehört. Da klebte ich an ihrem Bogen, an ihren Lippen. Da war wirkliches Feuer im Spiel. Da spürte ich die große Emotion. Das fällt Anne-Sophie Mutter mit ihren 53 Jahren heute nicht mehr so leicht. Ja, ich habe das Stück einmal von einem ganz jungen Russen gehört – da kamen mir die Tränen. Das war heute nicht der Fall.“
Als „phantastisch und perfekt“ empfand „Peach“ Fehling das Spiel Anne-Sophie Mutters. „Diese Frau spielt wirklich großartig – ich wüsste niemand, der das perfekter spielen kann. Frau Mutter hat eine souveräne Ausstrahlung und beherrscht das Instrument wie kaum eine andere Geigerin. Aber ja, Sabine hat recht: An Esprit, an Jugendlichkeit, könnte da etwas mehr kommen.“
Der gebürtige Hamburger Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1847) komponierte sein Jahrtausendwerk vor allem im Jahr 1844, nachdem er sieben Jahre zuvor bereits erste Gedanken entwickelt hatte. Am 13. März 1845 kam das Werk unter der Leitung des Gewandhaus-Kapellmeisters Niels W. Gade in Leipzig zur Uraufführung. Die Solo-Geige spielte Mendelssohns Jugendfreund Ferdinand David, Konzertmeister in Leipzig.
Das hoch romantische Werk kommt in so abgerundeter Vollendung daher, dass es gar nicht auffällt, wie ungewöhnlich für die tradierte Form des Solokonzerts manche Einfälle Mendelssohns sind. Aber es sind gerade diese Einfälle, durch die Mendelssohn das Prädikat „romantisch“ für sein Konzert rechtfertigt.
Die „klassischen“ Ansprüche auf Maß, Klarheit und feste Ordnung erhebt der Meister nicht mehr. So steht bereits der Anfang quer zur Gattungstradition und lässt ohne die übliche Orchesterexposition sofort das Soloinstrument zu Wort kommen. Aus allen Themen des Konzerts spricht Mendelssohn auf dem Höhepunkt seiner Meisterschaft: Ganz der Violine in die Seele komponiert, ist das gesangliche erste Thema des Eröffnungssatzes. Der zweite Satz singt in seiner Dreiteiligkeit ein elegisches „Lied ohne Worte“. Im virtuosen dritten Satz schließlich scheint das phantastische und quirlige Personal des „Sommernachtstraumes“ vorbeizutanzen.
Im zweiten Teil dann Bruckners Sinfonie Nr. 4 in Es-Dur – die „Romantische“, ein gigantisch schönes Werk von 65 Minuten – Anne-Sophie Mutter hatte da schon Feierabend. Nur 15 Jahre trennen Mendelssohn und Bruckner, nicht einmal eine Generation. Wie kann es sein, dass ihre Musik Welten voneinander entfernt zu sein scheint?
Nun, Mendelssohn starb bereits 1847, da stand der 23 Jahre alte Bruckner erst ganz am Anfang seiner Entwicklung als Komponist und hatte noch 50 schöpferische Jahre vor sich. Doch bei aller Unterschiedlichkeit der beiden Werke: Sie verbindet das Romantische, mit dem Mendelssohn und Bruckner gerungen haben, wie es nur echte Romantiker getan haben können.
Kraftvoll ist die 4. Sinfonie geworden. Das satte Blech – das nicht immer ganz rein blies – und der markige „Brucknerrhythmus“, die Kombination von „zwei zu drei“, das berühmte taa taa tatata sind allgegenwärtig. Immer wieder türmen sich im ersten, dritten und vierten Satz gewaltige Klangmassen auf, nehmen wieder und wieder Anlauf, um sich mal bedrohlich zusammenzubrauen, mal triumphal zu entladen.
Für Bruckner war „romantisch“, was Meyers Konversationslexikon in seiner Ausgabe der 1880er-Jahre so bezeichnete: „Man pflegt darunter das Mittelalterliche in Leben, Sitte und Kunst zu verstehen … Namentlich versteht man in der Kunst unter dem Romantischen im Gegensatz zur Einfalt, Ruhe und Klarheit des Antiken das auf das Unendliche, Ahnungsvolle, Wunderbare und Phantastische gerichtete künstlerische Streben, wie man im gewöhnlichen Leben auch das übernatürlich Scheinende, Wilde und Schauerliche, überhaupt das Ungewöhnliche und die Phantasie Anregende mit jenem Ausdruck zu bezeichnen gewohnt ist.“
Robin Ticciati, Chefdirigent des Scottish Chamber Orchestra, Music Director der Glyndebourne Festival Opera und ab 2017/18 für zunächst fünf Jahre Chefdirigent und künstlerischer Leiter des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin war an diesem Abend ein umsichtiger, ein begeisterter Leiter des London Philharmonic Orchestra, der dem vierten Satz Bruckners auch sehr schöne feine Tempi zu geben vermochte. Ticciati nahm viel Tiefgründiges aus dem Werk und stattdessen das Romantische im Untertitel der Sinfonie ernst.
Der Brite „gestattete sich bei den Übergängen feine Tempostauungen und spannte das Publikum mit lang angelegten Crescendi förmlich auf die Folter“, schreibt das „Hamburger Abendblatt“. „So aufregende Pianissimi hört man von einem Sinfonieorchester nicht alle Tage.“
Mitunter blieb aber der Eindruck, die Londoner könnten auch ohne Ticciati hervorragend musizieren. Da schien der junge Mann bisweilen staunend zu verfolgen, wie schön der Klangkörper zu musizieren in der Lage ist.
Vollkommen unverständlich und störend blieb indes, dass sich während Bruckners vielleicht schönster Sinfonie zwei hochrangige Herren in Anzug und Krawatte, der eine mit einer Geige in der Hand, in der Bühnenloge hinter einer Glasscheibe fortwährend unterhielten und nebenbei das Geschehen im Saal verfolgten. Das, liebe Herren, liebe Veranstalter, ist despektierlich und umprofessionell!
Andreas Schmidt, 12. November 2016
Klassik-begeistert.de