Titelbild: © Veerle Vercauteren
Annelies Van Parys – A War Requiem, Gustav Mahler – Symphonie Nr. 5, Brügge, Concertgebouw, 9. November 2018
Hugh Wolff, Dirigent
Sophie Karthäuser, Sopran
Thomas E. Bauer, Bariton
Belgisches Nationalorchester
Collegium Vocale Gent
Annelies Van Parys – A War Requiem
Gustav Mahler – Symphonie Nr. 5 (1904)
Von Daniel Janz
Es ist ein seltenes Vergnügen, eine Uraufführung miterleben zu dürfen. Solch ein Ereignis wirft immer die Frage auf, was einem diesmal begegnen wird. Hatte der Komponist eine Vorstellung? Gab es ein Thema, oder Vorbilder? Vielleicht einen persönlichen Bezug?
Die belgische Komponistin Annelies Van Parys, 1975 in Brügge geboren, erklärte sich bereit, vor dem Konzert einige dieser Fragen einem breiten Publikum zu beantworten und dadurch ihrem Werk mehr Kontext zu verleihen.
Was sie dabei schilderte, ließ auf große Kunst hoffen: Dem Vorbild von Benjamin Brittens War Requiem folgend entwarf sie dieses Werk zu 2 Texten der deutschen Dramatikerin Dea Loher. Dabei unterteilte sie es in 17 Segmente, die den 17 Grundtönen aus der Melodie des Dies Irae nachempfunden sind. Aus den Obertonreihen dieser Töne leitete sie die Klänge ab, die das musikalische Geschehen ihres Werkes prägen sollen – so jedenfalls in der Theorie.
Der Einstieg in das Werk weiß tatsächlich zu ergreifen. Als Zuhörer wird man von den brutalen Orchesteraufschreien, die sich aus einem fast unmerklich gehauchten Einstieg entwickeln, sofort gepackt. Ob durch lautes Schlagwerk dominiert oder durch schrille Dissonanzen hervorgerufen – der Komponistin gelingt es eindrucksvoll, den minutenlangen Instrumentalauftakt durch eine Atmosphäre aus Schrecken und Horror zu bestimmen. Die hier eingesetzten Klangmischungen ergeben ein Sammelsurium aus Effekten, die – jeder für sich genommen – an Genialität grenzen.
In der Gesamtheit aber erdrücken sie, wirken auf Dauer regelrecht ermüdend. Ein einzelnes Orchesteraufbäumen kann schockieren und erschrecken. Ab der dritten variationslosen Wiederholung beginnt es zu langweilen und irgendwann zwischen siebtem und zehntem Mal ist auch die Schwelle zur Lächerlichkeit überschritten. Fehlende melodische Aspekte und eine gänzliche Abwesenheit von thematisch/harmonischer Arbeit verschlimmern diesen Eindruck. Auch das zuvor angekündigte kompositorische Konzept mit dem Bezug zum Dies Irae bleibt dadurch unerkennbar.
Probleme zeigen sich im Verlauf auch bei dem größtenteils deutschen Text, als sich ganze Absätze desselben mehrfach wiederholen. Es mag einen interessanten Bogen erzeugen, wenn die Worte des Beginns am Ende wieder erscheinen und so eine textliche Spiegelung – oder in den Worten der Komponistin „Symmetrie“ – erzeugen.
Gefühlt 5 Wiederholungen ein und derselben Textstelle zu schrillem Einheitschaos grenzen aber eher an Maßlosigkeit. Leitpassagen, wie „keine Farben, keine Kleckse, nichts Abstraktes“ oder das im Englischen gänzlich aus dem Rahmen fallende „once you are there you are stuck“ verlieren so an Ausdruck. Zumindest der Rezensent fühlt sich hier in einer Einbahnstraße aus Ermüdung und Verdruss gefangen, denn spätestens ab der dreißigsten Minute entsteht der Eindruck, dass zu wenig Text für ein Werk dieser Länge vorhanden ist.
In solch einem Klangbombardement ist es auch schwer, einzelne Akteure positiv wahrzunehmen. Der 1953 in Paris geborene und heute in den USA lebende Dirigent Hugh Wolff müht sich zwar sichtlich ab. Orchestrale Einzelleistungen fallen wegen der clusterartigen Akkordzusammenstellungen jedoch kaum auf. Zumindest kann diese Effektmusik aber den Gesang über weite Stellen tragen – der Text wirkt nur selten durch die Orchesterklänge überlagert, sodass immerhin der Chor und die Solisten deutlich zur Geltung kommen.
Am meisten kann hier der deutsche Bariton Thomas Bauer (48 Jahre) überzeugen. Sein Vortrag vermittelt die Ernsthaftigkeit und pure Dramatik eines aus Todesangst kämpfenden Soldaten, der nur tötet, „um nicht selber getötet zu werden“. Auch die aus dem belgischen Malmedy stammende Sopranistin Sophie Karthäuser (44 Jahre) kann überzeugen, wo keine schrillen Flageoletttöne oder zu hohe Sprünge ihre Textverständlichkeit dämpfen. Als Quelle der Ruhe präsentiert sich weiterhin der Vokalchor aus Gent, der mal die Solisten durch seinen Gesang stützt, mal durch Effekte den Orchesterklang anreichert.
Das bleibt auch nicht ohne Belohnung – am Ende applaudiert ein Großteil des Publikums. Offenbar gehören diejenigen, die schweigend mit gerunzelter Stirn in ihre Sitze versinken, eher zur Minderheit. Es ist auch sicherlich nicht zu verkennen, dass dieses Werk seine Momente hat. Größtenteils präsentiert es sich aber leider doch als verkopfte Angelegenheit mit schwerem Zugang, wenn nicht sogar als missraten.
Die fünfte Symphonie von Gustav Mahler stellt im Anschluss dazu einen regelrechten Gegensatz an musikalisch klarer Sprache dar. Diese zwischen 1901 und 1904 entstandene und in 3 Abteilungen mit insgesamt 5 Sätzen unterteilte Komposition ist die erste Symphonie des Komponisten, zu der er dezidiert kein Programm herausgegeben hat.
Das 1904 im Kölner Gürzenich uraufgeführte Werk erlebte seinerzeit eine gemischte Rezension, gilt heute aber als eine der beliebtesten Mahler-Symphonien. Kernstück ist zwar der dritte Satz, bekannt ist diese Symphonie aber vor allem für den eröffnenden Trauermarsch und das Adagietto, das Mahler nachträglich der Symphonie hinzufügte, um es seiner Frau Alma zu widmen.
Mit der Trompetenfanfare zum Trauermarsch erlebt auch das Orchester eine regelrechte Auferstehung. Dieser Einstieg ist ein absolutes Erstrahlen aller Instrumentalisten auf der Bühne. Einziger Wermutstropfen: Im Tutti ist die erste Trompete zu leise, sodass sie diesen Satz, den sie eigentlich komplett bestimmen sollte, nur in den leisen Partien trägt. Der darauffolgende zweite Satz erhebt sich dann aber in eine beispiellose Vehemenz. Mit Kraft und viel Ausdruck steigert sich das Orchester bis zu einer musikalischen Katastrophe, die mehr erschüttert als das gesamte vorangegangene War Requiem.
Wahre Perfektion erreicht das Orchester dann im dritten Satz. Er ist vor allem durch die Solopartien des Horns geprägt, die der erste Hornist Ivo Haderman in geradezu einzigartigem Glanz mit unglaublichem Volumen vorträgt. Klare Intonation und herrlicher Ansatz machen ihn zum Anführer einer Horngruppe, die an diesem Abend als Herz des Orchesters mühelos die beste Instrumentengruppe des ganzen Ensembles bildet. Hier zeigt sich Klasse auf Weltniveau! Das kann man nicht besser spielen, was der spontane Zwischenapplaus eines Gastes noch einmal unterstreicht.
Auch die Interpretation des US-amerikanischen Dirigenten Hugh Wolff setzt Akzente. Er wählt für diesen dritten Satz ein leicht erhöhtes Tempo, das jedoch zu überzeugen weiß. Feingefühl und pure Romantik ringt er den Streichern und der Harfe dann im darauffolgenden Adagietto ab. Durch ihren Perfektionismus machen alle Akteure deutlich, dass dieser Satz in den Niederlanden und in Belgien eine noch größere Tradition besitzt, als in Deutschland. Hier spielen sie zu einem wahren Traum auf, den man einfach nicht enden lassen möchte.
Im finalen fünften Satz bringt Mahler dann noch einmal alle Instrumente zusammen und lässt sie auf ein furioses Finale hinspielen. Diese Entwicklung sowie den ein oder anderen musikalischen Scherz schüttelt das Orchester unter seinem Dirigenten regelrecht aus dem Ärmel – was in Wahrheit schwere Arbeit ist, erscheint bei dieser Inszenierung leicht und einfach, offenbart aber ein tiefgehendes Verständnis für Kunst und die Vorstellungswelt des Komponisten.
Mit tosendem Beifall wird das Orchester hinterher verabschiedet. Laute und zahlreiche Bravorufe krönen den Abschluss einer zuerst schwierigen, dann aber doch grandiosen Aufführung. Dieser Mahler hat Lust auf Mehr gemacht.
Daniel Janz, 10. November 2018, für
klassik-begeistert.de