Gesellschaftshaus im Otto-Wagner-Areal. Im Vordergrund: Mahnmal für die 772 Kinder, die von den Nationalsozialisten in der damaligen Anstalt ermordet wurden. Quelle siehe unten.
Das in Wien beheimatete aron quartett veranstaltet seit 2008 das „Kammermusikfestival Wien“. Das Festival widmet sich insbesondere der Aufführung von Werken, deren Schöpfer vom nationalsozialistischen Regime vertrieben oder ermordet wurden.
Kurt Schwertsik: Für Kitty – eine kleine Serenade (2025)
Viktor Ullmann: Streichquartett Nr. 3 (1943)
Ernst Toch: Dedication for string quartet (1948)
Franz Schubert: Streichquintett C-Dur, D 956 (1828)
aron quartett
Ludwig Müller, 1. Violine
Barna Kobori, 2. Violine
Georg Hamann, Viola
Christophe Pantillon, Violoncello
Klaus Steinberger, Violoncello
Kleiner Saal des Gesellschaftshauses im Otto-Wagner-Areal, Wien, 20. August 2025
von Dr. Rudi Frühwirth
“Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück.” Das singt der namenlose Wanderer in Schuberts Winterreise. Diese Straße musste Franz Schubert im November 1828 gehen, zwei Monate nach der Vollendung seines unsterblichen Streichquintetts; diese Straße musste Viktor Ullmann im Oktober 1944 gehen, zwei Tage nach dem Transport aus dem Ghetto Theresienstadt in das Vernichtungslager Auschwitz.
Dass wir alle irgendwann diese Straße gehen müssen, machte uns das 3. Konzert des Festivals wieder erschütternd bewußt – es stand im Zeichen des Gedenkens an Kitty Weinberger, die verstorbene Frau des emeritierten Physikprofessors Peter Weinberger, der seit Beginn das Kammermusikfestival ehrenamtlich organisiert.

Das dritte Streichquartett von Viktor Ullmann stand im Mittelpunkt des ersten Teils. Der in Schlesien in eine jüdische Familie geborene Komponist studierte in den Jahren 1919-1920 in Wien bei Arnold Schönberg und dessen Schülern Steuermann, Eisler und Kolisch, anschließend bei Heinrich Jalowetz in Prag. Sein drittes Streichquartett, ohne Zweifel ein Meisterwerk der Gattung, schrieb Ullmann im Ghetto Theresienstadt, in das er 1942 deportiert worden war. Natürlich ist der Einfluss der Schönbergschule unverkennbar, aber auch Anklänge an Debussy und Zemlinsky sind hörbar.
In Melodieführung wie auch harmonischer Entwicklung spricht die Musik aber eine ganz individuelle Sprache, die von Ullmanns hervorragender kompositorischer Begabung zeugt.
Obwohl das Werk durchwegs ohne klares tonales Zentrum angelegt ist, wird die Tonalität nicht ganz verleugnet. Das zeigt sich besonders im ersten, wehmütigen Satz, der nostalgisch auf glücklichere Zeiten zurückzuweisen scheint. Es folgt ein bizarres Scherzo mit gespenstischen Akkorden und Attacken. Das geisterhafte Largo basiert auf einem zwölftönigen Thema, das jedoch nicht streng seriell, sonder fugenmäßig verarbeitet wird. Das Finale ist ein rhythmisch betontes Rondo, das zum Ende noch einmal den lyrischen Anfang zitiert und dann in einem furiosen Ausbruch endet.
Das aron quartett ist bekannt für seine intensive Beschäftigung mit der zweiten Wiener Schule. Die Interpretation von Ullmanns Quartett war denn auch mustergültig; die Musiker brachten uns die lyrisch-emotionalen wie auch die dramatisch-effektvollen Aspekte eindrücklich nahe.

Das Quartett war eingerahmt von zwei bezaubernden kleineren Stücken. Den Beginn machte die Serenade für Kitty Weinberger von Kurt Schwertsik, komponiert für diesen Abend, perfekt einstudiert von den Musikern des aron quartett. Das Hauptmotiv der Serenade ist eine einfache Folge von vier Tönen, im Duktus, wenn auch nicht exakt in den Intervallen, identisch mit dem Thema, das zum Beginn des Finalsatzes von Mozarts Jupitersymphonie erklingt, ein Urmotiv der abendländischen Musik. Die kontrapunktische Verarbeitung des Motivs ist sehnsüchtig und sinnlich gehalten; zum Ende verklingt die Serenade ganz langsam, wie eine verlöschende Erinnerung.
Der Abschluss des ersten Teils war ein kurzer Satz für Streichquartett von Ernst Toch, mit dem Titel Dedication. Toch schrieb das Werk im amerikanischen Exil anlässlich der Heirat seiner Tochter Franziska. Dem Anlass enstprechend ist es gesanglich, optimistisch und von freudigen Gefühlen geprägt. Trotzdem sind einige Ähnlichkeiten zu Richard Strauss’ Metamorphosen zu bemerken, nicht zuletzt aufgrund der durchgehend spätromantischen Tonsprache, die Toch hier verwendet. Das aron quartett zeigte wieder perfektes Zusammenspiel und gefühlvolle Gestaltung.
Nach der Pause erklang dann Schuberts Streichquintett, einer der Gipfelpunkte der Kammermusik und Prüfstein für jede Streicherformation. Das aron quartett, verstärkt durch den exzellenten Cellisten Klaus Steinberger, bestand die Prüfung glänzend. Über das Werk brauche ich hier nichts zu sagen, es ist wohl den meisten Klassikbegeisterten gut bekannt. Durch die Besetzung mit zwei Celli ergibt sich ein unerhört eindrucks- und ausdrucksvolles Klangbild.
Die Interpretation lotete alle Facetten des Werks aus. Als einige Beispiele nenne ich: das wundervoll gesungene Seitenthema des ersten Satzes; das dritte Thema des ersten Satzes, das weit in die Zukunft auf die rhythmisch geprägten Schlussgruppen in Bruckners Symphonien weist; die himmlische Ruhe zu Beginn des zweiten Satzes, perfekt in Phrasierung und Intonation; die spielerischen Umschreibungen des Themas durch Violine und Cello im Schlussteil des 2. Satzes; die scharf artikulierten Dissonanzen im dritten Satz; das Zusammenspiel von Viola und Cello im Trio; die temperamentvoll vorgetragenen Synkopen und der Paargesang der Celli im vierten Satz; und zu guter Letzt der hinreißende Schluss mit seiner rasanten Stretta. Nach einer stillen Gedenkminute brach schließlich begeisteter Jubel aus, wohlverdienter Dank an die fünf Musiker.
Dr. Rudi Frühwirth, 22. August 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Quelle der ersten Abbildung: Von Muesse – Eigenes Werk, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7119781.
Mieczysław Weinberg, Die Passagierin Theater Lübeck, 12. Oktober 2024 PREMIERE
Buchbesprechung: Danuta Gwizdalanka: „Der Passagier“ klassik-begeistert.de, 12. Februar 2025