András Schiff © Olaf Malzahn
Chamber Orchestra of Europe
Sir András Schiff – Klavier und Leitung
Olivier Stankiewicz - Oboe
Rie Koyama - Fagott
Lorenza Borrani - Violine
Richard Lester - Violoncello
Johannes Brahms – Variationen über ein Thema von Joseph Haydn op. 56a
Joseph Haydn – Sinfonia concertante B-Dur Hob. I:105
Johannes Brahms – Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 d-Moll op. 15
Laeiszhalle, Großer Saal, 28. Mai 2024
von Jörn Schmidt und Regina König
Von Joseph Joachim ist überliefert, Johannes Brahms habe das Eingangsthema seines ersten Klavierkonzerts an einen „mächtigen Schüttelfrost“ angelehnt, durchlebt „infolge der Nachricht von Schumanns Selbstmordversuch“. Zuweilen lohnt die Lektüre von Programmheften, das ist ein brillanter Vergleich, den man nicht so oft liest. Sonst geht es meistens eher um die lebenslangen Selbstzweifel im Leben des Komponisten, der Beethoven stets wie einen Riesen hinter sich marschieren sah. Im zweiten Satz ist nichts mehr geblieben vom Schüttelfrost, auch dazu gibt es ein sehr schönes Zitat: „Ich male an einem sanften Porträt von Dir“, erklärte Brahms seiner Freundin Clara Schumann im Jahr 1856 das Adagio. Der dritte Satz nimmt dann den Riesen in Bezug, das Rondo erinnert an Beethovens drittes Klavierkonzert.
Wenn man so will, hat sich Brahms in seinem ersten Klavierkonzert an all den Themen abgearbeitet, die sein Leben und Schaffen beeinflusst haben. Es sollte ja eigentlich eine Sinfonie werden, doch dann gebrach es ihm an Mut. „Erkenne Dich selbst“ soll einst als Mahnung am Apollotempel gestanden haben und, wenn man so will, trägt das Konzert autobiographische Züge. Das Orakel zu Delphi wäre also sehr zufrieden mit Brahms Werk gewesen. „Besserung“, also was die Selbstzweifel betrifft, trat tatsächlich ein, es folgten vier großartige Sinfonien.
Allein, der Dirigent griff diese Steilvorlagen nicht auf. Das begann schon bei den Haydn Variationen. Damit es nicht nach ersten sinfonischen Gehversuchen klingt, muss der Dirigent einen Ordnungsrahmen schaffen. Rhythmik könnte helfen, oder Dynamik. Sir Schiff ließ es dagegen tiefenentspannt laufen, schon die Gestik geriet so, als wolle er seinen Lieblingspullover kunststopfen. Entsprechend gelangweilt war das Ergebnis, die Variationen klangen irgendwie nach Studienbuch. Das lag sicher nicht an künstlerischem Unvermögen, eher schien es, als habe sich Sir Schiff Brahms mit zu viel Akribie genähert. Aber zu apportieren, wie sehr Sir Schiff Brahms hat wie Brahms klingen lassen, das überlassen wir anderen Rezensenten.
Mit einem Hauch von Boshaftigkeit hätte man fragen können, warum das formidable Chamber Orchestra of Europe überhaupt einen Dirigenten zur Seite gestellt bekam. Das Orchester kann fraglos auch ohne Dirigenten musizieren. So arg war die Idee übrigens gar nicht, Sir Schiff blieb bei der Sinfonia Concertante im Dirigentenzimmer. Im Grunde ging’s nach der Pause so weiter, Sir András Schiff dirigierte mit Blicken, zarten Bewegungen des Kopfes. Manchmal war die Hand wie zum Gruß erhoben, dann aber starrte er auf seinen Flügel.
Nur der Impact war anfangs größer, alle Instrumentengruppen hatten plötzlich den Schüttelfrost, die Pauken sinfonische Wucht und die Streicher hohes Fieber. Die Genesung war dann zu schnell und überaus gründlich, die nächsten Minuten, bis zum Ende des Adagios, herrschte durchgängig eine lyrisch-verliebte Grundstimmung mit entsprechenden Klangfarben vor. Das passte und war ein gelungener Kontrast zum Rondo, das wie ein revolutionär verstandener Beethoven erklang.
Der Solist Sir Schiff hat nichts verlernt. Er suchte sich geschickt seinen Platz in der Partitur, was natürlich leichter von der Hand geht, wenn man gleichzeitig der Dirigent ist. Kraftmeierei hat Sir Schiff nicht nötig, er hat andere Mittel, dem Orchester, nun ja, im kammermusikalischen Dialog die Meinung zu geigen: Entsprechend elastisch perlten Wut und Aufgewühltheit, während Clara Schumann zugewandte Melodien irgendwie einen Unterton zu haben schienen. Nur manchmal, für einen kurzen Moment und vollkommen überraschend, da schien alle Leichtigkeit verloren und der Anschlag geriet undifferenziert, einfach nur unerklärlich schwer.
Jörn Schmidt und Regina König, 29. Mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Sir András Schiff, Cappella Andrea Barca, Mozart, Schubert Wiener Konzerthaus, 4. November 2021