Auf den Punkt 20:  Max hat Prüfungsangst

Auf den Punkt 20:  Max hat Prüfungsangst  klassik-begeistert.de, 7. Juli 2024

Kiel, Freischütz © Olaf Struck

Weil wir gerade die Fußball-Europameisterschaft im Land haben (gestern ist Deutschland mal wieder vorzeitig ausgeschieden): Hans-Joachim Watzke, aka Aki, hat letztes Jahr zu einem gesellschaftskritischen Rundumschlag ausgeholt: „Wenn wir Angst haben, dass ein Achtjähriger komplett aus dem Lebensgleichgewicht geworfen wird, weil er mal 5:0 mit seiner Mannschaft verliert, dann sagt das auch sehr viel über die deutsche Gesellschaft aus… Demnächst spielen wir dann noch ohne Ball. Oder wir machen den eckig, damit er den etwas langsameren Jugendlichen nicht mehr wegläuft.


Carl Maria von Weber
(1786 – 1826)
Der Freischütz
Friedrich Kind / Libretto

Uraufführung / 18. Juni 1821, Berlin (Königlichen Schauspielhaus)

Opernchor und Extrachor des Theaters Kiel
Philharmonisches Orchester Kiel

Daniel Carlberg / Musikalische Leitung

Jean-Romain Vesperini / Regie und Bühnenbild
Étienne Guiol, Wilfrid Haberey / Video
Alain Blanchot / Kostüme

Opernhaus Kiel, 6. Juli 2024

von Jörn Schmidt

Was war passiert? Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hatte ein neues Konzept für die Nachwuchsförderung vorgestellt. Die Grundidee war, den Kindern den Leistungsdruck zu nehmen. Für mehr Freude am Fußball. Akis Wort hat übrigens Gewicht, er ist einflussreicher Funktionär bei  der DFL (Deutsche Fußball Liga GmbH) wie auch bei der Borussia Dortmund GmbH & Co. KGaA. Und der fand das Konzept nicht gut, sah darin eine Demontage der Leistungsgesellschaft.

Ich habe eine Parallelwertung vorgenommen und gedacht: Der Mann hat Recht, stellen Sie sich mal vor, man bildet Sänger aus, die den Ton nicht treffen. Natürlich kann man das Orchester lauter spielen lassen, dann fällt es nicht so auf. Aber was ist, wenn auch der Dirigent nicht so recht performt. Vielleicht massenhaft zu frühe Einsätze gibt. Dann ist was los, dazu ist hier bei Klassik-begeistert unlängst so einiges geschrieben worden…

Nach einem Besuch des Kieler Freischütz habe ich nicht wirklich umgedacht, aber mir wurde bewusst, was ich eigentlich auch immer sage: Alles hat zwei Seiten, audiatur et altera pars. Konkret durfte Max vorsprechen. Der junge Bursche ist ein trefflicher Schütze. Er trifft alles, was ihm vor die Flinte läuft, und zwar mit spielerischer Leichtigkeit. Charakterlich ist mit Max eigentlich auch alles in Ordnung.

Max ist übrigens in Agathe verliebt, die beiden wollen heiraten. Agathes Vater ist Max wie auch dem Vorhaben wohlgesonnen, zur Ehe soll Max obendrauf gar die Erbförsterei erhalten. Max hätte ausgesorgt, wenn es nicht noch einen Brauch gäbe, der will: Max muss mit einem einzigen  Probeschuss seine Treffsicherheit beweisen, sonst wird das nichts mit Frau und Försterei.

Wer nun denkt, für einen Schützen wie Max ist das ein Leichtes, der geht nicht oft genug in die Oper. Die Aussicht, mit einem Fehlschuss alles zu verspielen, lähmt Max. Plötzlich ist die Leichtigkeit weg, er triff nichts mehr. Also lässt er sich mit dem Teufel ein und erhält unfehlbare Kugeln. Was er nicht weiß:  Unter den Kugeln ist eine Teufelskugel, deren Bestimmung es ist, maximales Unheil anzurichten.

Kiel, Freischütz © Olaf Struck

Tatsächlich geht der Pakt  fast in die Hose, lediglich das Eingreifen eines Eremiten garantiert in letzter Sekunde ein lupenreines Happy End. Ziemlich unglaubwürdig, aber es geht ja um die Ratio: Das Schicksal zweier Menschen von einem Probeschuss abhängig zu machen, das ist nicht gut. Statt dessen erhält Max ein Jahr Bewährungsfrist, danach locken Agathe und Erbförsterei. Er ist ja eigentlich ein feiner Kerl, der Mensch muss reifen dürfen. Was ist dagegen so ein oller Brauch bzw. ein zittriger Probeschuss. Wenn das mal kein wohltönendes Plädoyer gegen Leistungsdruck ist.

Jean-Romain Vesperini stütz diese These, auf der Bühne ist alles irgendwie märchenhaft düster. Man spürt, wie Max unter dem Leistungsdruck vom rechten Weg abkommt. Videos von Étienne Guiol und Wilfrid Haberey potenzieren das Geschehen zu einem Albtraum. Man versteht: Prüfungsangst  kann einen echt runter ziehen, das äußert sich augenblicklich mit schlechten Träumen. Und wenn man nicht aufpasst, gerät man schneller als man denkt in schlechte Kreise.

Kiel, Freischütz © Olaf Struck

Das Philharmonische Orchester Kiel gibt sich unbeeindruckt, man wähnt sich auf einer sonnendurchfluteten Waldlichtung. Daniel Carlberg mag eben  einen schlanken, hellen, dabei aber warmen Klang. Wenn die Musik allzu volkstümlich wird, funktioniert das  besonders gut. Es verleiht den eingängigen Passagen Eleganz, statt schlagerhaft daherzukommen. Zuweilen hätte man sich mehr Kontraste in Tempo, Rhythmik und Dynamik, gar Schroffheiten gewünscht. Wie in der großartigen Aufnahme unter Carlos Kleiber.

Kiel, Freischütz (c) Olaf Struck

Aber Carlberg hat nicht bei Carlos Kleiber studiert, sondern bei Mozart-Spezialist Leopold Hager. Der hat in einem Interview zur historisch informierten Aufführungspraxis gesagt: „Ich besitze ein ganz anderes Klangempfinden. Ich kann gewisse Geigenpassagen ohne Vibrato und scharf gespielt einfach nicht hören. Das klingt in meinen Ohren entsetzlich.“ Das prägt eben auch die Schüler.

Als Ks. Jörg Sabrowski als Kaspar auf die Bühne tritt, kommt Aki Watzke wieder ins Spiel. Wenn der  Kammersänger der Landeshauptstadt Kiel (seit April 2012) Luft holt, muss manch einer im Umkreis von 10 Metern anschließend unters Sauerstoffzelt. Michael Müller-Kasztelan als  Max hielt gleich mal Sicherheitsabstand. Aber das war sicher der Regie geschuldet… Sabrowski ist eben aufgewachsen, als Leistungsdruck noch nicht verpönt war. Das stählt und sichert eine lange Karriere. Was für ein Bass-Bariton. Waidmannsdank. 

Jörn Schmidt, 6. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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