Stanislav Kochanovsky, Amsterdam © Simon Van Boxtel
NDR Elbphilharmonie Orchester
Stanislav Kochanovsky – Dirigent
Mikko Franck
Matthias Goerne – Bariton
John Adams (*1947 ) – The Wound-Dresser für Bariton und Kammerorchester
Johann Sebastian Bach (1685 – 1750) – Ich habe genug
Kantate zum Fest Mariae Reinigung BWV 82
Richard Strauss (1864 – 1949) – Suite aus »Der Rosenkavalier« op. 59
Tod und Verklärung
Tondichtung für großes Orchester op. 24
Elbphilharmonie, Großer Saal, 9. Mai 2024
von Jörn Schmidt und Regina König
Stanislav Kochanovsky übernimmt ab der Spielzeit 2024/25 die Position des Chefdirigenten der NDR Radiophilharmonie in Hannover. Auf seiner Website hebt der NDR hervor, dass Gastdirigate den Sankt Petersburger u.a. nach Amsterdam, Wien, Israel, Paris, Oslo, Rom, Tokio, Dresden und London führen. Da kann es nicht schaden, sich zwischendurch hin und wieder dem norddeutschem Reizklima auszusetzen. Gelegenheit bot sich am 9. Mai 2024 als Einspringer für Mikko Franck, der kurzfristig absagen musste.
Die Besetzungsänderung hatte eine Programmänderung zur Folge, die überraschte, nein, enttäuschte. Leitfaden des ursprünglich geplanten klugen Programms waren „Musikalische Facetten des Sterbens“, wie auch das nur mit einem Einleger aktualisierte Programmheft sicherheitshalber hervorhebt. Die Tondichtung „Tod und Verklärung“ als zünftige musikalische Deutung des Todeskampfes eines Künstlers wäre das perfekte Hauptwerk gewesen.
Aber ein Rosenkavalier-Best-Of, also Walzerglückseligkeit? Wollte da jemand dem Tod ein Schnippchen schlagen? Gestorben wird in der Rosenkavalier-Suite jedenfalls nicht, unter der Hochglanz-Oberfläche geht’s indes zugebenermaßen ziemlich derbe ums Älterwerden. Wenn man so will gab’s wenigstens ein Rendezvous mit dem Tod. Wie klang das Rendezvous? Bestens aufgelegt, sprich gut gelaunt und klangschön. Kochanovsky mag romantischen Schönklang, bloß nichts glätten. Bravo!
Sehr gelungen war schon der Einstieg in die Suite, der Liebesakt zwischen der Marschallin und Octavian. Erst aufbrausend-erregt, dann aber, irgendwie zu schnell, glückselig-ermattet. Wie schön, dass dann Baron von Lerchenau hereinspaziert und wie ein Ochse Wiener Walzer tanzt. Tobias Kratzer hätte es, wie in seiner Berliner Arabella Inszenierung, mittels einer Leinwand mit einem Softporno in Schwarzweiß hinterlegt. Das war ein riesiger Spaß, programmatisch war’s indes ziemlich unpassend. Aber wir waren ja auch bockig ob der Programmänderung und belassen es bei dieser kurzen ersten Einschätzung.
Vor der Pause hat Kochanovsky dem Orchester noch Zurückhaltung verordnet, zumindest John Adams verlangt, dass sich der Orchesterpart unter den Gesang legt. Dem „Wundpfleger“ liegt ein Gedicht des Amerikaners Walt Whitman zugrunde, der darin seine Erlebnisse als freiwilliger Krankenpfleger während des amerikanischen Bürgerkrieges verarbeitete. Die Zeilen sind schwer zu ertragen, erst recht, wenn sie einem Matthias Goerne eiskalt und ohne Vorwarnung wie ein stoischer Haudrauf um die Ohren haut. Wo es darauf ankam, phrasierte er jedoch höchst sensibel.
Dem Orchesterpart kommt zugute, dass Minimal-Musiker Adams, nach eigenem Bekunden zusehends „gelangweilt“, dem Minimalismus den Rücken zukehrt. Das mit der Langeweile würden wir als Selbstironie einordnen wollen, die schrittweise Abkehr ist eher den selbstauferlegten Dogmen der Minimalisten geschuldet, wie „The Wound-Dresser“ lehrbuchhaft verdeutlicht. Der Kontrast Tod und Verderben versus Trost und Hoffnung lässt sich nicht wie gewünscht herausarbeiten, wenn Klangfarbe und Klangdichte nicht oder nur wenig verändert werden dürfen. Kochanovskys Dirigat setzt hier an, der Schwerpunkt seiner Einflussnahme liegt auf den Klangfarben, um die Gräuel des Krieges der Fürsorge des Pflegers aus Sicht der leidenden bzw. mitleidenden Menschen gegenüberzustellen. Trotzdem fiel es dem Orchester schwer, seinen Platz neben Goerne zu finden.
„Ich habe genug“ ist bei Bach kein Ausdruck von Lebensüberdruss, auch nicht, wenn es in der Schlussarie heißt. „Ich freue mich auf meinen Tod“. Sondern Gottesliebe. Angelegentlich eines Reinigungsopfers (Mariae Reinigung), 40 Tage nach seiner Geburt, wird der kleine Jesus in einen Tempel gebracht. Dort weilt auch Simeon, der in Jesus sofort und ohne jeden Zweifel den Retter der Welt erkennt und jubelt: „Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren. Denn meine Augen haben den Heiland gesehen.“ Dazu muss man wissen: Es war Simeon prophezeit worden, erst dann sterben zu können, wenn er dem Heiland begegnet.
Was macht Matthias Goerne draus? Er guckt auch beim Bach zuweilen hochsympathisch-böse, was neben sängerischer und weltanschaulicher Intelligenz zu seiner ungeheuren Bühnenpräsenz beiträgt. Gleichzeitig hätten wir gerne geschrieben, sein Bariton sei engelsrein. Natürlich kann ein Bariton nicht engelsrein sein, dass schließt sich aus, aber es fühlte sich so an. Diesen Eindruck erreichte Goerne, indem er mal nüchtern, mal feinfühlig und dann intim deklamierte – eine Kantate ist eben keine Oper.
Seine Interpretation geht von Simeons Gottesliebe aus und ruht in sich, abweichende Nuancierungen waren in der Regel auf einzelne Wörter fokussiert. Wenn es im ersten Recitativo heißt: „Ach! möchte mich von meines Leibes Ketten Der Herr erretten“, dann rieb sich Goerne an dem Wort „Ketten“. Anders als im Fidelio sind die Ketten hier kein Symbol eines Unrechtsregimes, die es mit wuchtiger Betonung anzuprangern gilt, sondern etwas, was hinzunehmen ist und das Goerne entsprechend neutral phrasiert. Weitere Schlüsselwörter, mit jeweils anderen Vorzeichen, waren für Goerne, na klar, „genug“, aber auch „Heiland“ „Trost“ und „Tod“. Usf.
Letztlich war es Matthias Goerne, der an diesem Abend den Tod aus gegensätzlichen Perspektiven verkörperte. Dem Orchester blieb es über weite Strecken verwehrt, sich am Thema des Abends abzuarbeiten. Bei Adams lag’s noch am Werk. Vielleicht weil den Musikern die Umstellung auf Glückseligkeit nicht so recht gelang, nach all dem Schrecken, den sie zuvor bei Adams flirrend-sensibel verbreitet hatten, gab’s bei Bach sogar Störfeuer von Orchester. Angefeuert durch den Dirigenten spielte es um einiges zu schnell, gemessen an der Deklamation von Matthias Goerne. Wer nun denkt, alles klar, die historisch informierten Dirigenten mal wieder, die haben es halt eilig, liegt falsch. Kochanovsky wählte keinen knackig-kalten Bach-Klang wie Gardiner und Co. Sein Bach-Sound war sozusagen eine Rolle rückwärts, so wunderbar warm und weich durften die Musiker spielen.
Was Richard Strauss unnachahmlich selbstbewusst für sich in Anspruch nahm („Es ist schwer, Schlüsse zu schreiben. Beethoven und Wagner konnten es. Es können nur die Großen. Ich kann’s auch.“), das gilt laut Programmheft-Beileger möglicherweise nicht für die Rosenkavalier-Suite: Nicht Strauss habe arrangiert, sondern der seinerzeitige Musikdirektor der New Yorker Philharmoniker, Artur Rodziński. Der hatte wohl seinerseits einen (damals noch nicht) berühmten Helfer namens Leonard Bernstein.
Trotzdem, oder gerade wegen Bernstein, an dem Rosenkavalier hatten alle ihre Freude. Kochanovsky, die Mitglieder des Orchesters, die endlich mal voller Spielfreude aufeinander achteten und sich dabei um die Wette anstrahlten, das johlende und vor Glück pfeifende Publikum sowieso. Und wir auch, wie wir nun doch zugeben möchten.
Jörn Schmidt und Regina König, 10. Mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Das Konzert wird am Sonntag (12. Mai 2024) um 11:00 Uhr wiederholt.