Auf dem Meeresgrund: Lennard Giesenberg (Der Dichter) und Xue Lin (Die kleine Meerjungfrau) (Foto: Kiran West)
Xue Lin tanzt diese kleine Meerjungfrau mit großer Überzeugungskraft. Wie sie sich dreht und windet, ihre Unterschenkel sitzend nach hinten hochstreckt oder mit dem Kopf nach unten gewendet die Arme hebt, wie sie überhaupt mit ihren Armen den Bewegungen der genialen Komposition von Lera Auerbach folgt, ist faszinierend anzuschauen.
Die kleine Meerjungfrau, Ballett von John Neumeier
frei nach Hans Christian Andersen
Musik: Lera Auerbach, Hamburger Fassung
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Leitung: Simon Hewett
50. Hamburger Ballett-Tage
Hamburgische Staatsoper, Neufassung, 6.Juli 2025
von Dr. Ralf Wegner
John Neumeiers kleine Meerjungfrau nach Hans Christian Andersen ist ein geniales Kunstwerk. Der Choreograph schuf nicht nur die tänzerische Fassung dieses Balletts, sondern ist auch für die Inszenierung, das Bühnenbild, die Kostüme und das Lichtkonzept verantwortlich.
Lera Auerbach lieferte ihm zudem eine kongeniale, melodiöse Komposition, die vom Philharmonischen Staatsorchester unter der Leitung von Simon Hewett gut durchhörbar, dynamisch ausdruckstark abgestuft und, um ein Farbymbol zu nutzen, stahlblau flimmernd gespielt wurde. Konradin Seitzner spielte die Violine und Lydia Kavina das Theremin (ein elektronisches Musikinstrument).
Die sich öffnende Bühne zeigt weiße und später blaue, die Meeresoberfläche imaginierende Leuchtbänder, in halber Bühnenhöhe zudem eine Schiffsreling. Es wird eine Hochzeit gefeiert. Der Dichter (Lennard Giesenberg) übersteigt die Reling und taucht auf den blauen Meeresgrund, derweil nur die Leuchtbänder nach oben gezogen werden. Er erkennt sein Geschöpf, die kleine Meerjungfrau (Xue Lin), die, getragen von magischen Schatten (Joaquin Angelucci, Florina Pohl, Emiliano Torres), mit langen blauen, flatternden Hosenbeinen das Meer durchstreift. Die Meerjungfrau erblickt Edvard (Matias Oberlin), den Kapitän des Schiffes, beim Schwimmen und verliebt sich in ihn.
Unwetter kommt auf, das Schiff sinkt, die Meerjungfrau rettet Edvard. Henriette (Ida Praetorius) erscheint mit Schulfreundinnen unter der Leitung von zwei Nonnen am Strand. Sie entdeckt den scheintoten Edvard.

Die Meerjungfrau lässt sich vom Meerhexer (Louis Musin) eine menschliche Gestalt geben, um Edvard nahe zu sein. Er verlangt von ihr den Tod des Angebeteten. Die Meerjungfrau verweigert sich zunächst und scheitert schließlich, denn Edvard nimmt sie nicht ernst. Der Dichter nimmt sich ihrer an und steigt mit der kleinen Meerjungfrau apotheotisch einer anderen Zukunft entgegen.
Xue Lin tanzt diese kleine Meerjungfrau mit großer Überzeugungskraft. Wie sie sich dreht und windet, ihre Unterschenkel sitzend nach hinten hochstreckt oder mit dem Kopf nach unten gewendet die Arme hebt, wie sie überhaupt mit ihren Armen den Bewegungen der genialen Komposition von Lera Auerbach folgt, ist faszinierend anzuschauen.
Diese Tänzerin, die eher selten durch mimische Regungen auffiel, schafft es, die vergebliche Liebesmüh, die Verzweiflung und die Erkenntnis, niemals zu den da oben dazuzugehören, tänzerisch und mit minimalen mimischen Mitteln überzeugend zum Ausdruck zu bringen. Das Eingeschlossen sein, die klaustrophobische Enge der Schiffskabine brachte vielleicht Silvia Azzoni noch stärker zum Ausdruck, für Jahre war die kleine Meerjungfrau die Paraderolle dieser Ausnahmetänzerin gewesen.

Matias Oberlin als der von der Meerjungfrau angebetete Edvard tanzte seinen Part überzeugend, technisch gab die Rolle aber mehr her als er, der Anführer der Marineoffiziere (Francesco Cortese, Evan L’Hirondelle, Javier Monreal, Moisés Romero, João Santana), zeigte. Ida Praetorius ging voll in der Rolle der selbstbewussten, sich ihres Kapitäns sicheren Braut Henriette auf. Der Meerhexer war mit Louis Musin herausragend besetzt. Schon wie er sich der kleinen Meerjungfrau anfangs mit wechselnd vorgeschobenen Schultern lauernd näherte, zeigte die von ihm ausgehende Gefahr. Und mit fabelhaften Drehungen und Sprüngen erwies er sich als unbeschränkter Herrscher der Wasserwelt.

Die von Viktoria Bodahl und Ida Stempelmann zugleich komisch und ernst dargestellten, auf den Fußspitzen trippelnden Nonnen blieben leider nur eine Episode. Mehr tänzerischen Furor zeigten die ob ihrer Verkleidungen nicht zu unterscheidenden, gegen Ende die Hochzeitsfeierlichkeiten störenden Schwestern der Meerjungfrau (Futaba Ishizaki, Charlotte Larzelere, Ida Stempelmann in einer weiteren Rolle, Ana Torrequebrada und Lin Zhang).
Das Publikum lauschte still der Aufführung und reagierte am Ende mit großer Begeisterung vor allem für die fesselnde Darstellung der an der Liebe leidenden kleinen Meerjungfrau Xue Lin. Der Beifall des Publikums war noch nicht verrauscht, als sich der Vorhang bereits endgültig schloss, noch bevor John Neumeier den Jubel für sein Meisterwerk entgegennehmen konnte. Immerhin war die Aufführung als Neufassung deklariert gewesen.
Dr. Ralf Wegner, 7. Juli 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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