Foto © Ansgar Klostermann
Dieses Konzert erzählte nicht von Brahms. Es sprach mit ihm. Und mit einem Publikum, das bereit war, aufmerksam zuzuhören. Nicht nur den Tönen, sondern dem, was zwischen ihnen liegt. Und ja: Es war ein Abend, der gezeigt hat, was es heißen kann, Brahms nicht nur zu lieben – sondern ihn wirklich zu hören.
Johannes Brahms
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 d-moll op. 15
Sinfonie Nr. 1 c-moll op. 68
Bamberger Symphoniker
Jan Lisiecki, Klavier
Jakub Hrůša, musikalische Leitung
Kurhaus Wiesbaden, 11. Juli 2025
von Dirk Schauß
Lieben Sie Brahms? Diese berühmte Frage, einst zum Titel eines melancholischen Films erhoben, schwebte unweigerlich über dem Konzertabend im Friedrich-von-Thiersch-Saal des Wiesbadener Kurhauses am 11. Juli 2025. Und sie stellte sich nicht nur rhetorisch – sie wurde mit unerbittlicher Intensität musikalisch beantwortet.
Denn gleich zweimal standen Werke Johannes Brahms’ auf dem Programm: Das Klavierkonzert Nr. 1 in d-Moll und die Sinfonie Nr. 1 in c-Moll – zwei Monumente des sinfonischen Denkens, zwei künstlerische Bekenntnisse. Unter der Leitung von Chefdirigent Jakub Hrůša und mit den Bamberger Symphonikern, deren tonale Spannkraft und interpretatorische Präzision zu den markantesten Erscheinungen der deutschen Orchesterlandschaft zählen, wurde dieser Abend zur tiefschürfenden Brahms-Befragung. Weitere Brahms Konzerte sind im Rahmen eines Zyklus geplant.
Jakub Hrůša, der mit analytischer Wachheit und gestalterischer Feinfühligkeit dirigierte, ließ keinen Zweifel an seiner Lesart: Brahms war kein Grübler, sondern ein Architekt des Inneren, ein Meister der Klangpsychologie. Und das wurde auch in Hrůšas Dirigat deutlich: sehnig, klare Strukturen und mit viel Herzblut musiziert.

Die Bamberger formten diesen Zugang mit faszinierender Durchhörbarkeit – kein Abschnitt klang „aus dem Bauch“, jeder Phrasenbogen war bewusst gebaut, jede dynamische Entwicklung sorgfältig abgestimmt. Die Streicher grundierten mit geschmeidiger Wärme, das Holz arbeitete mit einer Palette voller irisierender Farben, die Blechbläser agierten klar konturiert, aber nie dominant. Es war ein Zusammenspiel von sinnlicher Präsenz und geistiger Klarheit – ein orchestraler Organismus, der nicht nur funktionierte, sondern sprach. Dazu als Energiepuls die energische Pauke und das auffallend starke Kontrafagott.
Im Zentrum des Abends stand Jan Lisieckis Darbietung des Klavierkonzerts Nr. 1 von Johannes Brahms. Schon das Eingangsthema seines ersten Satzes entfaltete sich mit dramatischer Pracht, als würde der Flügelraum in ein Eruptionsfeld getaucht. Lisiecki ließ den ersten Akkord mit schlichter Ruhe erklingen, um anschließend in eine weitgespannte Klangbahn überzugehen. Seine Phrasierung atmete – punktgenau und expressiv – und er erzeugte an markanten Stellen subtil aufblühende Crescendi, die den Zuhörer förmlich in den Sog zogen. Die dialogische Struktur zwischen Solist und Orchester war minutiös austariert: Wenn die Violinen mit zarten Gegenmotiven antworteten, reagierte Lisiecki mit feinem Agogikspiel, das jedes Motiv zugleich entfaltete und atmete. Sein dynamisches Spektrum reichte von einem berührend transparenten Pianissimo im lyrischen Mittelteil bis zu einem erschütternden Fortissimo, in dem der Klang des Flügels förmlich flammend aufleuchtete.
Der zweite Satz offenbarte Lisieckis Kantabilität in ganzer Schönheit. Sein Anschlag war geschmeidig, gesungen, die Melodielinien glitten wie flüssiges Silber durch den Saal. In den leisesten Passagen schimmerte sein Ton wie Morgenlicht, während die zurückhaltende Unterlegung des Orchesters – gedämpfte Streicher, dezentes Holzbläserspiel – eine intime Kammermusik-Atmosphäre entstehen ließ. Besondere interpretatorische Entscheidung: Lisiecki verzögerte gelegentlich rhythmische Richtungswechsel minimal, was dem musikalischen Fluss eine fühlbare Menschlichkeit verlieh, ohne den formalen Rahmen zu dehnen.
Der robuste Finalsatz erweckte ein orchestrales Donnern, das jedoch stets von rhythmischer Präzision geleitet wurde. Lisiecki agierte hier nicht als einsamer Virtuose, sondern als Teil eines orchestral pulsierenden Ganzen: Jeder Triller, jede Oktavfigur wurde klar modelliert, zugleich aber in den großen Orchesterklang eingebunden. Die Bamberger Symphoniker leisteten hierzu ihren Beitrag in exemplarischer Manier – die Blechbläser setzten heroische Akzente, während die Pauken präzise untermalten. Die Dynamikgestaltung war sensationell: Ein energetisch vibrierendes Fortissimo, gefolgt von atmenden, fast vergänglichen Pianissimi – wie das Schwellen und Abebben einer Klangwelle.
Keine Frage, dieser Vortrag wirkte wie eine Klavier-Sinfonie, so eng verschmolzen waren die Musiker zu erleben. Ein herausragender Vortrag, den das Publikum dankenswert still verfolgte, um am Ende in Jubel auszubrechen. Jan Lisiecki spielte sodann das e-moll Prélude von Frédéric Chopin in subtiler Poesie.

In der zweiten Hälfte erwies sich Brahms’ Sinfonie Nr. 1 in c-moll op. 68 als monumentales Kapitel deutscher Musikgeschichte. Schon der eröffnende Unisono-Satz nahm barocke Strenge an, wurde aber rasch in spätromantische Weite transformiert. Hrůša zog das Orchester zunächst zu hochpräzisem Zusammenklang zusammen, um es dann sukzessive in einen melodischen Strom aus Breite und Emotionalität zu lenken. Die Streicher präsentierten sich als sonorer Klangkörper, ein vibrierender Teppich aus Wärme und Kraft –, während die Hörner dunkle, heroische Farben beisteuerten. Die Pauke gab dazu den unerbittlichen Rhythmus vor.
Der zweite Satz brachte dann die stillen Momente. Die Holzbläser führten feine Dialoge, fast wie in einem Märchenerzählen. Die Streicher legten einen samtigen, fragilen Teppich darunter. Herrlich sang dazu die Solo-Violine ihre Melodien. In solchen Momenten entsteht Nähe – nicht zum Werk, sondern zum Menschen, der es schrieb.
Im dritten Satz dann jene rhythmische Leichtigkeit, die oft überhört wird. Hrůša ließ das Thema nicht tanzen, sondern wiegen. Kein fröhliches Intermezzo, sondern ein kurzer, fast spöttischer Seitenblick. Die Bamberger spielten das mit einem Augenzwinkern, ohne es zu verniedlichen.
Das Finale: keine Frage, sondern eine Antwort. Das berühmte Alphornmotiv – weich, melancholisch. Dann das Wachsen, das Glühen, das Öffnen. Das große C-Dur-Thema kam nicht wie ein strahlender Sieg, sondern wie ein inneres Aufbrechen. Die Hörner trugen, die Streicher spannten – und das Blech, meist so riskant in dieser Passage, glänzte kraftvoll und kontrolliert. Hrůša hielt das Ganze zusammen, ohne es zu zügeln. Und als die Musik zum Schluss hin wuchs, tat sie es mit einem Furor, der nicht schmetterte, sondern befreite.
Der letzte Akkord – laut, strahlend, gewichtig. Und dennoch: kein Triumphgeschrei. Eher das Gefühl, etwas Schweres hinter sich gelassen zu haben. Kein Ziel erreicht – aber eine Schwelle überschritten. Riesige Begeisterung. Als Dank gab es dann noch zwei kurze Tänze tscheschichen Ursprungs.
Dieses Konzert erzählte nicht von Brahms. Es sprach mit ihm. Und mit einem Publikum, das bereit war, aufmerksam zuzuhören. Nicht nur den Tönen, sondern dem, was zwischen ihnen liegt. Und ja: Es war ein Abend, der gezeigt hat, was es heißen kann, Brahms nicht nur zu lieben – sondern ihn wirklich zu hören.
Dirk Schauß, 12. Juli 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Jakub Hrůša, Dirigent /Bomsori Kim, Violine Isarphilharmonie München, 19. Mai 2025
Seong-Jin Cho Klavier, Jakub Hrůša Dirigent Philharmonie Berlin, 13. März 2025
Julia Fischer, Violine und Jan Lisiecki, Klavier Elbphilharmonie, Hamburg, 7. November 2024