6. Akademiekonzert 2025 © Geoffroy Schied
6. AKADEMIEKONZERT: VLADIMIR JUROWSKI
Haydn und Schostakowitsch experimentieren mit der Zeit und der Zeiterwartung des Publikums, und beide lassen die Musik sich am Ende der in München gespielten Stücke ins Leere verlaufen. Für beide Stücke gab es viel Applaus, bei Schostakowitsch besonders intensiv. Ein Abend, der im positiven Sinne nachdenklich zurücklässt.
Joseph Haydn (1732-1809): Symphonie Nr. 45 fis-Moll Hob. I:45 «Abschiedssymphonie»
Dmitri Schostakowitsch (1906-1975): Symphonie Nr. 8 c-Moll op. 65
Bayerisches Staatsorchester
Vladimir Jurowski, Dirigent
Bayerische Staatsoper München, 3. Juni 2025
von Julian Führer
Joseph Haydn war ein strenger Lehrer, komponierte aber auch gerne Späße. Seine Werke, von Klavierschülern nicht immer geliebt, zelebrieren die Strenge der Form, und doch ist gerade der späte Haydn ungemein innovativ, was das Ausdehnen der Grenzen des musikalisch Möglichen angeht. Die über hundert Symphonien Haydns sind entsprechend eine Fundgrube für Neues und für seinen Humor.
Die 45. Symphonie, die das Bayerische Staatsorchester auf der Bühne des Münchener Nationaltheaters spielte, überrascht schon durch die für die Zeit ungewöhnliche Tonart fis-Moll. In der Motivarbeit und der Abfolge der Sätze ist das Stück wieder ganz klassisch, aber der zweite Satz dehnt sich und scheint kein Ende zu finden, und das Finale ist aufgrund seiner Anlage einigermaßen berühmt: Nach und nach hören die Instrumentengruppen auf zu spielen. Im Anlehnung an eine historische Aufführungspraxis wurde zuerst das Licht auf dem Podium gedimmt, worauf dann die Musiker nach und nach die Bühne verließen, sehr effektvoll durch das Löschen der Pultlampen unterstützt. Eine Symphonie, deren Finale zwar als Presto beginnt, aber mit einem Adagio endet und sich schließlich durch das sukzessive Wegfallen der Stimmen fast im musikalischen Nichts verliert.
Der musikalische Bruch zur folgenden 8. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch war stark, aber eine thematische Klammer war vorhanden, wie vor allem der Schluss deutlich machte. Der Kopfsatz macht deutlich, wann dieses Werk entstanden ist – 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, als die Deutsche Wehrmacht noch weite Teile der westlichen Sowjetunion besetzt hielt. Der Beginn, von Vladimir Jurowski raffiniert gestaltet, entfaltet ein schroffes Motiv in den Streichern, das sich aber nach wenigen Takten verliert und in einen über 25 Minuten langen Satz übergeht, der über weite Strecken sehr langsam gehalten ist, punktuell aber zu Ausbrüchen kommt.

Der zweite Satz der ‘Achten’ Schostakowitschs dröhnt fröhlich drauflos – sowjetische Kulturbürokraten hätten hier wohl gerne einen Triumphgesang über die Wende im Krieg gehört, denn zur Jahreswende 1942/1943 hatte die Deutsche Wehrmacht in Stalingrad ihre erste große Niederlage erlitten. Analog zur «Leningrader» (der 7. Symphonie) wurde der 8. Symphonie der Titel «Stalingrader» verliehen, der nicht von Schostakowitsch stammt und sich auch nie durchgesetzt hat. Nach etwa einer Minute überschlägt sich die Musik ins Zirkushafte, und dann bricht alles Fröhliche weg. Schostakowitschs Fröhlichkeit ist einmal mehr aufgesetzt, verzerrt, eine Fratze.
Das Allegretto des dritten Satzes ist der berühmteste Teil der Symphonie mit einem fast nähmaschinenartig durchgehaltenen Rhythmus, den Vladimir Jurowski minimal langsamer als im vorgeschriebenen Metronomtempo anging – dies erlaubte ihm eine Steigerung zum Ende des Satzes, der in eine extrem laute Dissonanz aufgipfelt. Krieg, Gewalt oder das Zermalmen des Individuums in einer totalitären Gesellschaft: was auch immer dieser Satz transportiert, es ist außerordentlich eindrucksvoll und nur in einem ausreichend großen Saal umsetzbar. Selbst eine noch so gute Aufnahme wird diese Beklemmung niemals wiedergeben können.

Schostakowitsch experimentiert wie Haydn mit der Form und hat für die «Achte» fünf Sätze geschrieben (wohl ein Rückgriff auf den von ihm verehrten Gustav Mahler). Gerade im abschließenden Allegretto machen die Zusammenballungen immer mehr Solostimmen Platz, denen viel Raum zur Entwicklung gelassen wird. Im Laufe der Symphonie kommen unter anderem Englischhorn und Solovioline zu großen Passagen, die in ihrer mustergültigen Umsetzung die Klasse des Bayerischen Staatsorchesters unterstrichen. Vladimir Jurowski und das Orchester sind aufeinander eingestimmt, das zeigte sich immer wieder in der großen Wirkung, die auch die kleinsten Gesten des Dirigenten entfalteten, der manchmal fast das Dirigieren einstellte und nur noch das wechselseitige Zuhören moderierte.

Am Ende dann saß das sehr groß besetzte Orchester (32 Violinen, 8 Kontrabässe) fast still auf dem Podium, während die Musik sich zu verlieren schien. Eine letzte Melodielinie verschwindet aus den Streichern, die Violinen spielen einen sehr leisen C-Dur Akkord, der über fast zwei Minuten gehalten wird, eine Flöte tastet sich erratisch tastend zum tiefen C, ein paar Pizzicati der tiefen Streicher, und die Musik endet. Sie endet sogar auf C-Dur, aber morendo, ersterbend, wie es die Partitur vorschreibt. Der Krieg war nicht vorbei, und der Sieg würde mit millionenfachem Tod und Leid verbunden sein.
Haydn und Schostakowitsch experimentieren mit der Zeit und der Zeiterwartung des Publikums, und beide lassen die Musik am Ende der in München gespielten Stücke sich ins Leere verlaufen. Für beide Stücke gab es viel Applaus, bei Schostakowitsch besonders intensiv. Ein Abend, der im positiven Sinne nachdenklich zurücklässt.
Julian Führer, 5. Juni 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Wiener Symphoniker, Vladimir Jurowski, Dirigent Konzerthaus Wien, 9. Jänner 2025
Konzert Nigl, Ofczarek, Jurowski Wiener Staatsoper, 8. Jänner 2025
RSB und Vladimir Jurowski Konzerthaus Berlin, 30. Dezember 2024