Brittens „Peter Grimes“ an der Oper Frankfurt: An der Oberfläche musiziert

Benjamin Britten, Peter Grimes  Oper Frankfurt, 6. September 2025

Fotos: Barbara Aumüller @ Oper Frankfurt

Denn Oper ist nicht dazu da, lediglich kunsthandwerklich zu gefallen. Idealerweise soll sie aufrütteln, erschüttern, Seelen öffnen, eine existenzielle Erfahrung sein.

Diese Frankfurter Aufführung dagegen hat gezeigt, wie schmerzhaft leer Musik klingt, wenn sie nicht als notwendig empfunden wird. Und das ist die eigentliche Tragik dieses Abends.

Benjamin Britten
Peter Grimes

Inszenierung:  Keith Warner

Musikalische Leitung:  Thomas Guggeis

Wiederaufnahme an der Oper Frankfurt, 6. September 2025

von Dirk Schauß

Benjamin Brittens „Peter Grimes“ ist keine Oper, die sich im schönen Singen oder gefälliger Orchesterarbeit erschöpft. Dieses Werk lebt aus der Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft, zwischen Außenseitertum und kleinstädtischer Enge, aus psychologischer Feinzeichnung, die jede Figur zu einer Miniatur von großer Wahrheit macht.

Wenn eine Aufführung diese Dringlichkeit nicht entfaltet, verliert „Peter Grimes“ sein Fundament. Genau dies geschah nun bei der Wiederaufnahme der 2017 in Frankfurt herausgekommenen Inszenierung von Keith Warner am 6. September 2025: eine solide gearbeitete, in Teilen wirkungsvolle Produktion, die aber unter der musikalischen Leitung von GMD Thomas Guggeis in einer geradezu schmerzlichen Belanglosigkeit versank.

Warners Regie – in der Wiederaufnahme betreut von Axel Weidauer – ist in ihrer Grundanlage eher traditionell und handwerklich verlässlich. Die Atmosphäre des Fischerdorfes ist klar umrissen, das Bühnenbild von Ashley Martin-Davis betont die Strenge und Enge der Dorfgemeinschaft, die Kostüme von Jon Morrell verankern das Geschehen in einer erkennbaren Realität. Doch mancher Einfall wirkt erzwungen. Wiederkehrend treten Kinder auf, wohl als Spiegel der toten Lehrbuben gedacht, doch ohne szenische Schlüssigkeit. Statt zu berühren, verwundern sie, bleiben ein Fremdkörper im Ablauf, da nicht wirklich eine Beziehung zu Grimes hergestellt wird.

Besonders misslungen ist die Bebilderung mancher orchestraler Zwischenspiele, die Brittens Musik eigentlich als eigene Erzählinstanz schärfen sollte. Ausgerechnet die Sturmmusik – ein Höhepunkt der Partitur – wird dafür missbraucht, einen Menschen über die Bühne zu jagen, ihn zu verprügeln und schließlich an einem Galgen aufzuhängen. Eine plumpe Illustration, die die Gewalt der Musik auf ein triviales Bild reduziert. Statt eines elementaren Naturereignisses, das das ganze Dorf erschüttert, sieht man eine banale Theaterszene, die die musikalische Spannung erdrückt.

Das Sängerensemble präsentierte sich stimmlich durchweg solide bis sehr gut, doch die psychologische Differenzierung, die Britten jeder einzelnen Figur zugedacht hat, blieb weitgehend ungehört. Swallow, der schrullige Bürgermeister (Thomas Faulkner), Mrs. Sedley, die Klatschbase mit manischem Eifer (Judita Nagyová), die Puffmutter Auntie (Katharina Magiera), die beiden Nichten (Anna Nekhames und Julia Stuart), der schmierige Ned Keene (Jarrett Porter), der fanatische Bob Boles (AJ Glueckert) – sie alle blieben in der Charakterzeichnung farblos.

Dabei lebt „Peter Grimes“ gerade davon, dass jede dieser Figuren eine Facette des Dorfes verkörpert: Lüsternheit, Heuchelei, Gier, Bigotterie, aber auch Mitgefühl und Zweifel. In Frankfurt war davon kaum etwas zu spüren. Musikalisch war alles korrekt, technisch sauber, aber es fehlte die Spontaneität, das Eingehen auf Text, Farbe, Rhythmus und Freiheit in der Phrasierung. Statt einer lebendigen Gesellschaftsminiatur entstand ein homogenes Klangbild, das jede Schärfe und Schrulligkeit glattbügelte.

Barbara Aumüller @ Oper Frankfurt

Magdalena Hinterdobler als Ellen Orford sang mit klarer Stimme und großer Linienführung, doch auch sie blieb in ihrem Ausdruck zu glatt. Ellen, bei Britten die menschlichste, innigste Figur, schien hier eher eine freundliche Nebenrolle als eine moralische Lichtgestalt.

Im Mittelpunkt der Aufführung stand Allan Clayton als Peter Grimes – ein Grimes-Sänger von internationalem Rang, gefeiert an der MET und in Paris. In Frankfurt blieb sein Grimes jedoch merkwürdig unauffällig. Stimmlich war sein Vortrag makellos, der Tenor biegsam, technisch brillant. Doch in Körpersprache und Textgestaltung blieb er seltsam neutral, wirkte gutmütig wie ein Teddybär. Wo Britten der Figur Sprachschärfen einschreibt, wo sich innere Abgründe auftun, blieb es bei kultiviertem Wohlklang. Sätze wie „that evil day“ oder die Beschwörung des „childish death“ glitten vorbei, als seien sie beiläufige Wendungen, ohne erlebtes Gefühl.

Barbara Aumüller @ Oper Frankfurt

Doch gerade hier müsste der Schmerz, die Fremdheit, die Einsamkeit hörbar werden. Grimes wirkte bei Clayton wie ein ganz normaler Fischer, keineswegs wie der Außenseiter, den das Dorf ablehnt und in die Menschenjagd treibt. Damit verlor der Abend sein Zentrum. Denn wenn Grimes nicht als störender Fremder in seiner Andersartigkeit spürbar wird, funktioniert diese Oper nicht. Zwangsläufig gelangt man zu der Frage: warum dieser ganze Aufruhr?

Die einzige Ausnahme stellte Nicholas Brownlee als Captain Balstrode dar. Mit kraftvollem Bariton und starker Bühnenpräsenz formte er eine Figur von Integrität und Wärme, eine Stimme der Menschlichkeit im Meer der Verlorenheit. Brownlee machte erlebbar, wie stark Brittens Figuren sein können, wenn man ihnen Kontur und seelisches Profil verleiht. Wunderbar, wie er mit den Nuancen seines Textes und der daraus resultierenden Dynamik agierte.

Die Chöre der Oper Frankfurt (Einstudierung: Álvaro Corral Matute) – verstärkt durch Extrachor und Statisterie – boten die musikalisch packendsten Momente des Abends. Präzise, rhythmisch pointiert, in dynamischer Wucht entfesselten sie die Massenszenen, die das Dorf zur erdrückenden Macht erheben. Hier blitzte auf, welches Potential dieser Abend gehabt hätte, wenn auch Orchester und Solisten eine ähnliche Unmittelbarkeit gefunden hätten.

Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester, unter Thomas Guggeis sonst ein Garant für farbenreiche, packende Abende, blieb erstaunlich zahm, als würde die Partitur bewusst kleingehalten werden. Guggeis führte den Klang eng und kontrolliert, bremste die Dynamik, suchte nach struktureller Klarheit – und opferte dafür Ausdruck, Farben und emotionale Kraft. Ironie und Schärfen blieben geglättete Andeutungen. Die Sturmmusik, die ein Beben durch den Saal jagen müsste, klang wie ein Sturm im Wasserglas.

So wirkte das Orchester zuweilen unsicher, reduziert, zu deutlich zurückgenommen – nicht aus Rücksicht auf die Sänger, sondern aus Mangel an interpretatorischem Zugriff. Guggeis schuf ein Klangbild von äußerer Ordnung, das die emotionale Wahrheit von Brittens Partitur deutlich verfehlte.

Barbara Aumüller @ Oper Frankfurt

Am Ende blieb von dieser Wiederaufnahme ein schmerzlicher Eindruck zurück: eine Vorstellung, die auf oberflächliche Professionalität reduziert wurde. Sängerisch sauber, orchestral strukturiert, szenisch handwerklich präzise – und doch ohne die Bedeutung, die diesem Werk so eigen ist. „Peter Grimes“ ist ein Stück von abgründiger Tiefe, ein Spiegel der Grausamkeit und Sehnsucht, der Gewalt und Verlorenheit. In Frankfurt blieb davon nur eine makellose Hülle.

Gerade in einer Stadt, deren Opernhaus sich gerne als führend in Europa versteht, ist ein solcher Abend enttäuschend. Wenn ein Dirigent die elementare Wucht von Brittens Partitur zu einem „Sturm im Wasserglas“ verkleinert, wenn Sänger mit bloßer Stimmkultur aufwarten und kaum wirkliche, individuelle Charaktere schaffen, wenn ein gefeierter Grimes zum eher netten Nachbarn schrumpft, dann verfehlt ein solches Bühnenwerk seine beabsichtigte Wirkung.

Denn Oper ist nicht dazu da, lediglich kunsthandwerklich zu gefallen. Idealerweise soll sie aufrütteln, erschüttern, Seelen öffnen, eine existenzielle Erfahrung sein.

Diese Frankfurter Aufführung dagegen hat gezeigt, wie schmerzhaft leer Musik klingt, wenn sie nicht als notwendig empfunden wird. Und das ist die eigentliche Tragik dieses Abends.

Dirk Schauß, 7. September 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Benjamin Britten, Peter Grimes Oldenburgisches Staatstheater, Premiere, 9. März 2024

Benjamin Britten, Peter Grimes, Oper in drei Akten und einem Prolog Staatsoper Hamburg, 14. Februar 2024

Benjamin Britten, Peter Grimes Staatsoper Hamburg, 11. Februar 2024

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