Foto: Bernard Haitink © Rupert Steiner
Royal Concertgebouw, Amsterdam, 15. Juni 2019
Radio Filharmonisch Orkest, Samstag-Matinée
von Dr. Holger Voigt
Er ist ein ganz, ganz Großer – ein „Stardirigent“durch Wirkung, nicht durch extrovertiertes Auftreten. Er würde eine solche Bezeichnung stets zurückweisen, ja gar verabscheuen, versteht er sich doch als einen Dienenden an der Musik und dem Orchester („… ein Dirigent ist doch nichts ohne sein Orchester…“. ) Jegliche Exalthiertheit auf dem Podium ist und war ihm fremd. Der „leise Weise“ scheute schon immer das Rampenlicht und hielt nicht viel – ja wohl gar nichts – von dem Aufheben um seine Person.
Mit seinem Namen sind Aufführungen der Symphonien Gustav Mahlers und Anton Bruckners verknüpft, die unübertroffen als Refernzereignisse gelten. Daneben – nicht minder exemplarisch – dirigierte er ein weites Spektrum zahlreicher Komponisten, und es gelangen ihm – unabhängig vom jeweiligen Orchester – Spitzenleistungen, die im Gedächtnis blieben.
1957 kam der heute 90-Jährige in Amsterdam geborene Niederländer zum Radiophilharmonischen Orchester seiner Geburtsstadt und gelangte im Anschluss dann zum Royal Concertgebouw Orchester (RCO), wurde deren Chefdirigent und blieb in dieser Position sage und schreibe 27 Jahre bis 1988! Danach übernahm er die Leitung des Royal Opera House in London für 14 Jahre und die einiger der renommiertesten Orchester der Welt, darunter das London Philharmonic Orchestra, die Staatskapelle Dresden und das Chicago Symphony Orchestra (CSO). Hinzu kamen zahlreiche Gastdirigate in aller Welt. Er ist Ehrendirigent der Salzburger Festspiele, des Royal Concertgebouw Orchesters, des Radiophilharmonischen Orchesters Amsterdam, der Wiener sowie der Berliner Philharmoniker.
Erst kürzlich ließ er in einem Presseinterview verlautbaren, dass er nach 65-jähriger Dirigententätigkeit nunmehr ein „Sabbatical“ nehmen wolle, was nichts anderes bedeuten sollte als die unmissverständliche Tatsache, dass er nunmehr mit dem Dirigieren aufhören werde. Im September 2019 werde er in Luzern den Schlusspunkt setzen.
Zuvor aber kehrte Bernard Haitink an sein Amsterdamer Concertgebouw zurück, um Orchesterlieder von Richard Strauss sowie die 7. Symphonie von Anton Bruckner zu dirigieren, und zwar mit dem Radiophilharmonischen Orchester Amsterdem – demjenigen, das ihm den Weg zu seiner Laufbahn ebnete. Bis auf den allerletzten Platz war der wunderbar warm und brilliant klingende Konzertsaal des ehrwürdigen Gebäudes gefüllt. Zum Schluss wurden auch Zuhörer eingelassen, die sich in jegliche mögliche Nische des Saales stellen durften, um an diesem historischen Ereignis teilzuhaben. Und das alles an einem ansonsten „normalen“ Samstag um 14 Uhr. Hier wurde Geschichte geschrieben, und jeder war sich dessen bewusst.
Auf dem Programm des Konzertnachmittages standen Orchesterlieder für eine Sopranstimme von Richard Strauss sowie die 7. Symphonie von Anton Bruckner, diejenige also, die seinem Komponisten zum großen Durchbruch verhelfen sollte. In der Vorankündigung war zunächst die 4. Symphonie eingeplant gewesen, doch entschied sich Haitink für die siebte und erweiterte das Programm zudem um 5 Orchesterlieder von Richard Strauss für eine Sopranstimme. Nicht die evtl. zu erwartenden „Fünf letzten Lieder“, sondern eine Zusammenstellung eher seltener zu hörender Liedkompositionen (mit Ausnahme von „Morgen“).
Die aus Linköping stammende schwedische Sopranistin Camilla Tilling sang mit wunderbarer schönklingender Sopranstimme ausdrucksstark und sprachverständlich. Sie wurde dabei mit äußerster Umsicht vom Dirigenten in Räume geführt, in denen sie ihre stimmlichen Qualitäten voll entfalten konnte. Auf den melodischen Einfällen des Komponisten schien sie regelrecht zu „surfen“, wobei ihre Stimme mit dem schwelgenden Klangrausch des Orchesters homogen verschmolz. Das war besonders in „Die heiligen drei Könige aus Morgenland“der Fall, ergreifend und meisterhaft ausgesungen. Was für eine kongeniale Zusammenkunft zwischen Orchester und Sopran! Und was für eine meisterliche Orchestrierung seitens des Komponisten! Feuchte Augen zur Pause, wo immer man nur hinsah.
Die 1884 unter Arthur Nikisch in Leipzig uraufgeführte 7. Symponie in E-Dur stellte für Anton Bruckner einen großen Triumph und seinen Durchbruch in der Symphonik dar. Allzu lange Zeit war er missachtet, gar verspottet worden; viele seiner Gegner waren überzeugte Widersache und hielten seine Symphonien für „lautes Blech“, dem alles fehle. Mit der Siebten änderte sich für Bruckner alles, und es wurde ihm späte Genugtuung zuteil.
Bruckners Symphonik erschließt sich vielen nur schwer, oft auch erst nach langjähriger intensiver Beschäftigung mit dem Werk des Komponisten. Es kommt nicht von ungefähr, dass die namhaftesten Bruckner-Dirigenten hochbetagt sind/waren – Wand, Blomstedt, Celibidache, Heitink – um nur einige zu nennen. Dieses liegt an der lebenslangen Befassung mit Bruckners Partituren, die zu immer neuen, gar überraschenden Erkenntnissen führen kann. So reift das Bruckner-Verständnis erst über Jahre oder gar Jahrzehnte. Es dürfte dabei unter Musikkennern unbestritten sein, dass es in der Bruckner-Symphonik kaum etwas Schlimmeres gibt als ein Orchester, das ohne diesen Reifungsprozess zur Werksaufführung verleitet wird. Lieber keinen Bruckner als einen schlechten!
Bernard Haitink hat sich zeitlebens mit Anton Bruckner auseinandergesetzt. Das merkt man in jeder kleinsten musikalischen Nuance seiner Werksaufführungen. Die hier gespielte 7. Symphonie ist reich und vielfältig an musikalischen Einfällen, weist anrührende melodische Themenentwicklungen und -durchführungen auf, bei denen man verblüfft ist, wie es der Komponist schafft, immer wieder eine Wendung in die bestvorstellbare Auflösung zu bringen. Er stellt Themen in den Raum, stoppt dann ab und reduziert alles auf eine geradezu kammermusikalische Dimension, verwirft diese wieder, nachdem er sie fast heiter hat anklingen lassen und führt schließlich alles in einen mächtigen, bläsergetragenen hymnischen Choral zum Abschluss. Man muss genau hinhören und wird dabei ein Wunder nach dem anderen entdecken.
Bernard Haitink versteht es – wohl wie zur Zeit kein anderer Dirigent – auch noch das kleinste Klangelement geradezu kalligrafisch herauszuarbeiten und hörbar zu machen. Ein einziger in den Raum gestellter Ton reicht dabei aus, um mit einem Schlag alles verstehbar zu machen. Unablässig holt Haitink aus dem „Füllhorn“ der Partitur eine Nuance nach der anderen hervor, so dass einem der Atem stockte.
Sein Dirigierstil ist wunderbar klar und unmissverständlich. Er vermeidet jegliche Übertreibung, wirkt homogen und zurückgenommen – er dientder Musik; es ist die Musik, die führt. Seine linke Hand – bekanntlich „vom Herzen kommend“ signalisiert Emphase, Vibrato oder Fortissimo – letzteres mit der wippenden Faust, ersteres mit geradezu zärtlicher Fingersprache bis in die Fingerspitzen. Die rechte Hand lässt die Streicher in großen Wogen ausspielen, nimmt dabei nichts zurück (denn es war schon richtig dosiert). Oder setzt Akzente für Holz- und Blechbläser und bündelt diese zusammen. Dabei wirkt der überwiegend im Stehen dirigierende Maestro nahezu jugendlich in seiner gestischen Motorik. Es ist ein Lehrbeispiel der Dirigierkunst und ein beeindruckendes Erlebnis.
Zum grandiosen Abschluss verharren Dirigierstab sowie die Bögen der Streicher in einem beschwörenden Moment der Stille in der Luft, bevor sich der Arm senkt und Haitink die Partitur auf dem Pult schließt. Er legt den Baton sorgfältig daneben, streicht alles noch einmal zurecht, dreht sich zur linken Seite zum Konzertmeister und reicht diesem anerkennungsvoll die Hand. Dann dreht er sich zum Publikum um. Niemanden hält es auf den Sitzen, ein frenetischer Jubel bricht sich Bahn – er will einfach nicht enden! Fast alle haben Tränen in den Augen – das hier ist keine stehende Ovation mehr, das ist vielmehr eine Huldigung (und genau das ist dem Dirigenten eher unangenehm). Immer wieder muss Bernard Haitink aus dem Untergeschoss der Bühne – gestützt durch hilfreiche Hände und einen Gehstock – auf das Podium, um sich zu verneigen. Der Beifall hört einfach nicht auf. Und dann gibt es sie doch – die zarte Geste eines persönlichen Gefühls, als er seine linke Hand auf sein Herz hält.
Tief bewegt und voller Wehmut verlasse ich das Concertgebouw. Ich realisiere, dass ich soeben Teil eines historischen Konzertes war. Es war das beste, dass ich zeitlebens gehört habe. Dankjewel, Bernard Haitink!!!
Dr. Holger Voigt, 16. Juni 2019, für
klassik-begeistert und klassik-begeistert.at
Radiophilharmonie-Orchester Amsterdam
Leitung: Bernard Haitink
Camilla Tilling, Sopran
Richard Strass: Ich wollt‘ ein Sträusslein binden, op. 68/2
1918/1940 entstanden (nach Clemens von Brentano)
Richard Strauss: Das Rosenband, op. 36/1
1897 entstanden (nach Friedrich Gottlieb Klopstock)
Richard Strauss: Säusle, liebe Myrte, op. 68/3
1918/1940 entstanden (nach Clemens von Brentano)
Richard Strauss: Die heiligen drei Könige aus Morgenlandop. 56/6 1906 entstanden (nach Heinrich Heine)
Richard Strauss: Morgen, op. 27/4 1894 entstanden ( nach John Henry Mackay, aus: Vier letzte Lieder)
Anton Bruckner: Symphonie No. 7, E-Dur
1881-1883, Uraufführung 1884, Leipzig