Beglückend und bedrückend: Beethoven und Schostakowitsch in Bern

Berner Symphonieorchester, James Conlon, Dirigent, Javier Perianes, Klavier  Casino Bern, 27. Juni 2024

© Florian Spring 240219_bso

Berner Symphonieorchester
James Conlon, Dirigent

Javier Perianes, Klavier

Ludwig van Beethoven (1770–1827): Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 c-Moll op. 37

Dmitri Schostakowitsch (1906–1975): Symphonie Nr. 5 d-Moll op. 47

Casino Bern, 27. Juni 2024

von Julian Führer

Als Beethovens Klavierkonzert Nr. 3 c-Moll op. 37 uraufgeführt wurde, war es noch nicht fertig. Eine recht bekannte Anekdote berichtet, wie Ignaz Xaver von Seyfried 1803 für Beethoven, der selbst den Solopart spielte, die Seiten umblättern sollte, die aber noch zu größeren Teilen unbeschrieben waren, während Beethoven letztlich improvisieren musste.

Diese Aufführung wurde auch vom Publikum nicht als gelungen empfunden. Im Bern des Jahres 2024 haben wir es leichter und können auf die 1804 erschienene und seither mehrfach revidierte gedruckte Ausgabe zurückgreifen. Unter der Leitung von James Conlon spielte das Berner Symphonieorchester einen sehr klaren, direkten, eher schlanken und stets gradlinigen Beethoven, passend zu dieser Phase seines Schaffens.
Beethoven hatte damals die ersten beiden Symphonien und Klavierkonzerte und etliche Werke für Klavier abgeschlossen, stand aber noch vor der Komposition von Waldsteinsonate, Appassionata und Eroica und war vor allem als Klaviervirtuose bekannt.

James Conlon © Dan Steinberg for laopera

Das dritte Klavierkonzert hat eine eher lange symphonische Einleitung und tritt dann in den grundsätzlich klassischen Dialog zwischen Soloinstrument und Orchester ein, wie ihn Mozart in den Wiener Konzerten entwickelt hatte. Jedoch ist Beethovens Stil bereits im Kopfsatz unverkennbar: die Betonung der mittleren und Basslinie, die markante Rhythmik, die technisch und kompositorisch in neue Welten weisen.

Am Klavier spielte Javier Perianes beeindruckend souverän und dynamisch stets auf das Orchester und den Saal abgestimmt. Im zweiten Satz (Largo) kehrt Beethoven die Rollen um, und es ist der Solist, der eine Introduktion spielt, bevor das Orchester sehr zart einsetzt.

Vielleicht zum ersten Mal ist es Beethoven hier gelungen, gleichzeitig elegische und fast bukolische Elemente zu einer Musik zusammenzufügen, die größte Ruhe ausstrahlt. Dies funktioniert nur, wenn der Wechsel von Soloinstrument zu einzelnen Instrumentengruppen, insbesondere Fagotten und Flöten, im organischen Fluss bleibt. Die Berner Umsetzung war hier mustergültig: James Conlon ließ das Orchester so spielen, dass es den Eindruck eines ganz freien Vortrags vermittelte (den ein guter Dirigent erst einmal organisieren können muss).

Javier Perianes © Igor Studio

Der direkte Übergang ins abschließende Rondo wies wieder neue Wege, da Beethoven an rhythmische Figuren des ersten Satzes anknüpft und die Musiker mit sehr genauen Notationen zu Präzision zwingt. Javier Perianes ließ die zahlreichen Sforzati und anderen Markierungen hörbar werden, ohne daraus eine affektierte Überinterpretation werden zu lassen. Die dichte Instrumentierung blieb transparent, jede Note der Partitur war zu hören. Das Publikum applaudierte langanhaltend dieser mustergültigen Darbietung ohne Mätzchen oder Manierismen.

Nach der Pause spielte das Orchester unter dem auswendig dirigierenden James Conlon die 5. Symphonie d-Moll op. 47 von Dmitri Schostakowitsch.

Über dieses 1937 uraufgeführte Stück ist viel geschrieben worden: Schostakowitsch, das fast noch kindliche Genie der ersten Symphonie, der junge Wilde der ersten Opern Die Nase und Lady Macbeth von Mzensk, der weit weniger bekannte Avantgardist der vierten Symphonie, die er in der Schublade verschwinden lassen musste, weil in der Prawda 1936 scharfe Kritik gegen ihn publiziert wurde und diejenigen, die ihn protegierten, unter Stalins „Säuberungen“ ermordet wurden.

Die fünfte Symphonie wurde wie andere Werke (zum Beispiel das recht persönliche achte Streichquartett) mit einem Titel versehen, der nicht auf Schostakowitsch selbst zurückgeht, von ihm aber akzeptiert wurde: „Schöpferische Antwort eines Sowjetkünstlers auf gerechte Kritik“. Es war unmöglich, die Kritik aus der Prawda zu ignorieren, und um überhaupt noch gespielt zu werden (und zu überleben), musste Schostakowitsch Stellung beziehen.

Der erste Satz beginnt direkt mit dem ersten Hauptthema in den Streichern – forte gespielt, mit scharf punktiertem Rhythmus, als würde man nach Luft ringen. Schostakowitsch war ein großer Kenner und Bewunderer der Musik Gustav Mahlers und hat in der fünften Symphonie etliche Anlehnungen an Mahlers sechste Symphonie, in diesem Fall die Schroffheit der Thematik, den zwischendurch aufscheinenden Marschcharakter und die vor allem im zweiten Satz hörbaren, vielleicht nur scheinbaren Aufhellungen der Stimmung.

Mahler zitierte gern wie vor ihm Schubert und Beethoven in der Symphonie pastorale Ländlermusik mit ihrer eingängigen Struktur und gröberen Faktur. Schostakowitsch scheint sich mehrfach in leicht vulgäre Volksliedklänge, vordergründige Märsche und auch fast primitive Zirkusmusik zu flüchten. Das Klavier als Teil des Orchesters unterstreicht die Rhythmik, das Xylophon das Schrille und manchmal Verzerrte der Komposition, die aber immer durchhörbar bleibt und daher dem Gehör und musikalischen Verstand des allgemeinen Publikums und damals vor allem der Parteibonzen zugänglicher bleibt als andere Kompositionen dieses Schöpfers.

James Conlon © Todd Rosenberg

In der Interpretation James Conlons und des Berner Symphonieorchester wirkte der zweite Satz (Allegretto) wie eine direkte Anlehnung an Gustav Mahler. Der dritte Satz (Largo) hingegen zerdehnt die Musik, wirkt sehr lastend, gequält – nur 24 Partiturseiten für 15 Minuten Musik. In den Noten schreibt Schostakowitsch immer wieder espressivo vor, gegen Ende des Satzes dreimal morendo. Der Kontrast zum Fanfarenthema des Schlusssatzes könnte nicht größer sein. Gerade über diesen Schluss gehen die Interpretationen auseinander:

In den Deutungen aus dem Ostblock eher „Durch Kampf zum Sieg“, in der westlichen Perspektive, die bei Schostakowitsch immer nach versteckter Regimekritik suchte, hingegen die groteske Überzeichnung einer vordergründig-affirmativen Musik, die sich am Schluss nur noch im Kreis dreht und vor lauter Pomp in Leere endet. Auch wenn diese Diskussion hier nicht noch einmal geführt werden soll, war doch auffallend, wie stark James Conlon während der letzten Takte das Tempo zügelte und damit ein gewollt hohles Pathos entstehen ließ.

Beeindruckend, wie flexibel die Musiker des Orchesters folgten und auf welchem Niveau insgesamt sich dieses Konzert bewegte. Das Bedrückende der fünften Symphonie überwog gegenüber einem Jubelfinale im Stil des sozialistischen Realismus.

Eine tragische Ironie der Geschichte ist, dass diese Symphonie, mit der Schostakowitsch sich der stalinistischen Kulturbürokratie unterwerfen musste, bis heute eines seiner meistgespielten Werke geblieben ist. Man sollte es mit Sinn für die vielen Zwischentöne hören. Der Berner Abend war beispielhaft dafür, wie ein Konzertprogramm auf höchstem Niveau gelingen kann.

Julian Führer, 30. Juni 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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