Ich bin ein Teil der stürmischen Ovationen für Vera-Lotte Boecker

Bluthaus, Friedrich Georg Haas, Claudio Monteverdi  Cuvilliés-Theater, München, 21. Mai 2022

„Es geht nicht mehr.“ Diesen Satz höre ich viele Male von der Hauptfigur der Oper, Nadja, und den Geistern ihrer Eltern Werner und Natascha. Dieser Satz kreist während der Aufführung gefährlich drohend drückend über meinem Kopf. In meinem Kopf. Im Ohr. Im Herz. Im Bauch. Er durchrauscht meinen Körper, meine Seele.

Foto: Bluthaus 2022, (c) M. Rittershaus

Cuvilliés-Theater, Residenz München, 21. Mai 2022

Bluthaus (Uraufführung 2011/2014)
Komponisten Georg Friedrich Haas, Claudio Monteverdi.
Text für «Bluthaus» von Händl Klaus. Libretti von Ottavio Rinuccini.

von Frank Heublein

An diesem Abend wird im Münchner Cuvilliés-Theater im Rahmen des
„Ja, Mai – Das neue Festival“ Bluthaus von Georg Friedrich Haas in München erstmals aufgeführt. Eingerahmt wird die Kammeroper mit zwei Madrigalen von Claudio Monteverdi. Zu Anfang sind es Ausschnitte aus Il ballo delle ingrate. Die lange instrumentale Introduktion verstehe ich als Ouvertüre. Die undankbaren Seelen sind Sinnbild von Nadjas Abgrund, den ich gleich erlebe. Ich erlebe den Klang einen Hauch zu fett für meine persönliche Idealvorstellung eines zart zerbrechlichen reinen klaren Monteverdi Madrigalenklangs. Erstaunt bin ich, wie bruchlos ich den Übergang von barockem Madrigal zur zeitgenössischen Oper höre.

Am Ende das Lamento della ninfa. Den Schmerz der Nymphe hörte ich vor kurzem schon einmal im Konzert. Hier als Ende der Oper Bluthaus ist es die erstickende Verzweiflung. Nicht süß, nicht zart wie in meiner Erinnerung. Nur aushauchender grausamer Untergang der Seele.

„Es geht nicht mehr“. Diesen Satz höre ich viele Male von der Hauptfigur der Oper, Nadja, und den Geistern ihrer Eltern Werner und Natascha. Dieser Satz kreist während der Aufführung gefährlich drohend drückend über meinem Kopf. In meinem Kopf. Im Ohr. Im Herz. Im Bauch. Er durchrauscht meinen Körper, meine Seele. In beiden Verstehensarten. Diese Aufführung quält mich in ihrem unbedingten Zwang. Nadjas Ausweglosigkeit. Ihrer Verzweiflung. Ihrem Verrücktwerden. Ein Strudel, der sich musikalisch in nicht enden wollenden kreisenden Crescendi des Orchesters, dem zermürbenden irrsinnig hohem manchmal nur gerade hörbaren Geflirre der Streicher. Dem pulsenden Pochen des Schlagwerks, dessen Rhythmus mein Herz übernehmen muss. Den aggressiven immer wieder mich überraschenden Gongs, die mich physisch zusammenzucken lassen. Ich wünsche mir das Ende herbei, weil ich schnell an meine Grenze des Aushaltens stoße, so sehr attackiert mich die Geschichte Nadjas.

Es geht nicht mehr, weil mich dieses Stück an meine psychischen Grenzen bringt. Einerseits möchte ich mit jemand, etwa mit der Dame, die neben mir sitzt, über dieses Stück sprechen. Ich möchte mich nicht der Gefahr des Alleinseins aussetzen. Ein Angstblitz durchsticht mich! Andererseits sehe ich mich nicht in der Lage, meine Gefühle, meine Lage in irgendeiner sozialen Situation in Worte zu fassen. Es geht nicht mehr heißt: ich kann nicht mehr. Meine Reaktion ist der Rückzug ins Zuhause. In den Moment der Reflexion. Ich bin den Tränen nahe. Es geht nicht mehr, weil mich die Oper im wahrsten Sinn des Wortes vollständig ausfüllt. Da ist nichts anderes. So intensiv umfassend habe ich das selten erlebt.

Ich verneige mich vor der Leistung von Sopranistin Vera-Lotte Boecker, die die Nadja singt, fühlt, zersetzt, spielt, die Psyche sprengt. Ich kann mir nur ansatzweise ausmalen, mehr will ich gern vermeiden, wie martialisch zersetzend die Auseinandersetzung mit und die Aneignung der Rolle ist. Ein Angriff auf das private Ich der Sängerin. Ihr Gesang ist ein zweistündiger Ausnahmezustand. Ekstatisch. Verzweifelnd. Mühsam die Contenance wahrend, wenn sie auf die Kaufinteressenten trifft. Ständig durchbrechen die Geisterstimmen ihrer Eltern den Besichtigungstermin der Kaufinteressenten des Elternhauses. Den väterlichen Missbrauch erleidend, ertragend und zugleich unbestimmt falsche Liebe empfindend. Den stellvertretenden Missbrauch mit dem Makler Axel Freund selbst initiierend. Ich gebe zu, ich entwickele Hass auf die Nachbarn, die die Bombe platzen lassen, dass das Haus ein Bluthaus ist. Ein Ort des Mordens. Die Nachbarn tanzen fröhlich, feixen und Nadjas Psyche bricht darob zusammen. Diese Frau braucht Hilfe! und keiner hilft ihr, alle stoßen sie nur tiefer in den Abgrund ihrer psychischen Höllenfahrt.

Nadja wird missbraucht. Psychisch. Physisch. Von vielen Handelnden. Ein Strudel, der sie immer tiefer in den Abgrund führt. Vera-Lotte Boecker singt diese Partie mit verzweifelter Energie, ich höre die Panik aus ihrer Stimme, wenn die Geister ihrer Eltern sie umkreisen.

Das Ensemble der Sänger und Sängerinnen ist klein und exzellent, emotional zwingend. Neben Nadja sind es drei. Natascha Albrecht, Ihre Mutter gesungen von Mezzosopran Nicola Beller Carbone. Die wegschauende hilflose Mutter, die der missbrauchten Nadja Beruhigungsmittel einflößt. Nadjas Vater Werner gesungen von Bariton Bo Skovhus. Nadja singt „Ich habe ihn geliebt“. Sie erlebt den Missbrauch des Vaters erinnernd wieder. In dieser Szene ist auch stimmlich die gegenseitige emotionale Abhängigkeit von Vater und Tochter zu spüren. Seine Gier. Ihre gequälte Liebe.

Axel Freund, der Makler wird von Countertenor Hagen Matzeit gesungen. Anfangs wirkt der Mann wie der Fels in der Brandung. Stimmlich fest und souverän. Was Nadja in ihrer Situation, sich von diesem Haus zu befreien, unmittelbar auch erotisch anzieht. Die Eskalation, die die Nachbarn herbeiführen, lässt Nadja und Axel zusammenkommen. Doch dieser Akt entzieht Axel jegliche Energie und positives Gefühl. Auf die zu spät kommenden Interessenten reagiert er zombiehaft paralysiert. Am Ende flüchtet er, um sich, seine Psyche zu retten. Seine im Stück durchlebte Wandlung ist eine stimmlich emotional mich quälend starke Leistung.

Die Solisten des Tölzer Knabenchors als Kinder eines Interessenten überzeugen mich gänzlich im Ohr wie im Gefühl. Sie machen den Umschwung prägnant spürbar. Erst sind sie voller Begeisterung für Haus und Garten. Die Information, dass hier gemordet wurde lässt sie singen „von den Wänden, die wir streiften, um die Bleibe zu erkunden, wähnen wir uns angegriffen. Die wir neugierig berührten, haben uns wehgetan“. Die Aussage ihres Vaters „Meine Buben sind beschädigt. Ich erwäge Sie zu klagen“ bringt die Aggression gegen Nadja auf den Punkt.

(c) Rosa-Frank.com

Das Extreme dieser Oper wird erzeugt durch die kongeniale Kombination aus Sprechen und Singen. Die Rollen der Kaufinteressenten und der Nachbarn sind allesamt Sprechrollen. Die Kombination Sprechen und Singen erzeugt in mir einen beißenden, zwingenden Effekt. Die Belanglosigkeit eines Maklertermins, Banalitäten der Verkaufsargumente ob der Vorteile – etwa: Fischgrätparkett, unverbaubarer Blick. Das Einprasseln der Banalitäten der sprechenden Interessenten. Die letzte Kraft Nadjas, die Situation sozial anständig bewältigen zu wollen. Wobei ständig die Sangesstimmen ihrer Eltern durch das Haus wabern. Ein unerträgliches Gefühl! Ihr Gesang bringt mich ihrer Grenzsituation so nah. Das Zerstäuben aller Hoffnung durch die Fiesheit der Nachbarn. Ich werde in den Blick, die Person, das Gefühl von Nadja gezwungen. Als ihr gefühlter Stellvertreter werde ich mit ihr am Boden zerstört. Ich winde mich innerlich.

Boden, Rahmen, die Luft, die Enge bei der angesprochenen Weite des Hauses und seiner Umgebung. Meinen musikalisch fulminanten Gesamteindruck setzt Dirigent Titus Engel mit dem kleinen Ensemble des Bayerisches Staatsorchesters zwingend.

Die Inszenierung ist klug und schnell wandlungsfähig. Die Wände des Kastens werden genutzt für die Videoprojektion das An- und die Einsichten des Hauses. Die sich ändernden Wände und Vorhänge werden vertikal gehoben und gesenkt. In diesen sichtbaren Kasten der kleinen Bühne des Cuvilliès-Theaters aus changierendem Grau werde auch ich wie die Spielenden hineingezwungen. Ganz mein Kopf, dem ich nicht entkommen kann. Die Decke senkt sich bedrohlich hin zum Moment der Bluthaus Offenbarung der Nachbarn. Danach fährt sie hoch, wie ein Deckel, den es nicht auf dem Topf hält durch das Entsetzen, die Panik der Interessenten.

Ich bin ein Teil der stürmischen Ovationen für Vera-Lotte Boecker. Ein Teil der Begeisterung für alle auf der Bühne Agierenden. Dirigent Titus Engel und den Mitgliedern des Bayerischen Staatsorchesters und dem Monteverdi Continuo Ensemble im Graben. Regiemannschaft, Autor und Komponist sind anwesend und werden auch von mir beklatscht. Ich als Teil des Publikums klatsche aus Begeisterung. Aber auch aus Erleichterung, weil das Stück zu Ende ist. Ich heil entkommen bin – bin ich das? frage ich hier im Schreiben. Auftauchen darf aus der psychopathischen Ausweglosigkeit des Stücks.

Frank Heublein, 22. Mai 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

 

Programm

Bluthaus (Uraufführung 2011/2014) von Georg Friedrich Haas, Libretto Händl Klaus

Ausschnitte aus Il ballo delle ingrate / Lamento della ninfa (Madrigali Guerrieri ed Amorosi, Libro ottavo 1638) von Claudio Monteverdi

Besetzung

Musikalische Leitung Titus Engel

Inszenierung/Choreographie Claus Guth

Bühne Etienne Pluss

Kostüme Petra Reinhardt

Choreographische Mitarbeit Ramses Sigl

Licht Michael Bauer

Video rocafilm

Dramaturgie Yvonne Gebauer, Katja Leclerc

Sänger und Sängerinnen

Nadja Albrecht, Tochter Vera-Lotte Boecker

Natascha Albrecht, Ihre Mutter Nicola Beller Carbone

Axel Freund, Makler Hagen Matzeit

Werner Albrecht, Vater Bo Skovhus

Meinhard, Jeremias und Lukas Maleta Solisten des Tölzer Knabenchors

 

Schauspielerinnen und Schauspieler

Frau Reinisch von der Bank Michaela Steiger

Irene, in Ausbildung Irina Kurbanova

Frau Schwarzer, Nachbarin Michaela Steiger

Herr Schwarzer, Nachbar Silvester von Hößlin

Frau Beikirch Evelyne Gugolz

Herr Fuchs Bijan Zamani

Frau Hallosch Cathrin Störmer

Herr Hubacher Steffen Höld

Herr Maleta Thomas Reisinger

Frau Dr. Rahmani Evelyne Gugolz

Herr Dr. Rahmani Bijan Zamani

Frau Stachl Cathrin Störmer

Herr Stachl Christian Erdt

Herr Dr. Strickner Thomas Huber

Nadja Double Anna Ressel

Monteverdi Madrigale

Vera-Lotte Boecker, Lukas Siebert, Hagen Matzeit, Bo Skovhus, Solisten des Tölzer Knabenchors

Bayerisches Staatsorchester
Monteverdi Continuo Ensemble
Cembalo Jeanne-Minnette Cilliers
Chitarrone Jacopo Sabina
Violoncello Yves Savary

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