Fotos: Boris Godunow (c) Barbara Aumüller
Fazit: Keith Warner liefert eine werkdienliche, visuell opulente, konzeptuell kluge Inszenierung mit vielen starken und interessanten Ideen, die sich jedoch teilweise zu sehr in ihrer eigenen Bildwirkung gefällt und durch überstrapazierte Einfälle (Eier, Narr, Ente) an Schärfe einbüßt. Dazu kommt ein zu zahmes, farbloses Dirigat von Thomas Guggeis und ein Titelrollendarsteller ohne die nötige vokale Substanz und Ausstrahlung. Bleiben der herausragende Pimen von Andreas Bauer Kanabas, die grandiosen Chöre und die seltene Chance, die Schostakowitsch-Fassung komplett zu erleben. Eine Produktion mit Licht und Schatten – sehenswert für alle, die Mussorgski ernst nehmen, aber keine neue Referenzaufführung.
BORIS GODUNOW
MODEST P. MUSSORGSKI 1839–1881
Oper in vier Akten mit Prolog
Text vom Komponisten nach Alexander S. Puschkin und Nikolai M. Karamsin
Uraufführung der zweiten Fassung 1874, Mariinski-Theater, St. Petersburg
Instrumentation von Dmitri D. Schostakowitsch (1939/40)
Inszenierung: Keith Warner
Musikalische Leitung: Thomas Guggeis
Chor und Kinderchor der Oper Frankfurt
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Oper Frankfurt, 21. November 2025
von Dirk Schauß
In einer Ära, in der Imperien wanken und neue Despoten aus den Trümmern klettern – von den Kremlkorridoren bis zu den Boardrooms der Konzerne –, bleibt Modest Mussorgskis „Boris Godunow“ ein unerbittliches Spiegelbild unserer kollektiven Torheit und Hybris.
Die Oper Frankfurt hat mit Keith Warners Neuproduktion (besuchte Vorstellung am 21. November 2025) nicht nur eine der längsten und komplexesten Partituren der Operngeschichte ausgegraben, sondern sie in der seltenen, vollständigen Schostakowitsch-Orchestrierung von 1939/40 auf die Bühne gebracht – inklusive des vielgeschmähten Polen-Akts. Fast fünf Stunden, zehn Bilder, zwei Pausen: ein kühnes Unterfangen, das sich lohnt, aber nicht überall zündet.
Keith Warner schafft eine werkdienliche, ideenreiche Inszenierung, die sich jedoch in manchen ihrer Bilder ein wenig zu sehr gefällt. Der Grundgedanke ist deutlich und bleibt durchgehend stark: ein kreisförmiger, ummauerter Raum, ein gigantisches Panoptikum der Überwachung und Unterdrückung.

Eine Drehbühne zeigt permanent Vorder- und Rückseite der Macht; darüber thront ein überdimensionales Uhrwerk – als gigantische Projektion über Boris‘ Schreibtisch –, das unbarmherzig tickt und die Figuren zu Zahnrädern im Getriebe der Geschichte macht, ein unaufhörliches Räderwerk, das Verluste ignoriert. Kaspar Glarner baut daraus ein düster-prächtiges Bühnenbild ohne jeden folkloristischen Kitsch: zwei gewölbte, dreistöckige Elemente, die sich zu Palast, Kloster oder Straflager zusammenschieben lassen, auf der Rückseite jedoch nur triste, graue Betonwände preisgeben – ein gelungener Kommentar zur Fassade jeder Diktatur.

Die Kostüme collagieren Bojarenpelze mit stalinistischen Uniformen, Landarbeiterkittel mit maoistischen Roben, goldbestickte Pracht mit Gulag-Lumpen – eine bewusste, meist funktionierende Reibung zwischen Epochen und Systemen, von orthodoxen Priesterkutten über prunkvolle Herrscherornate bis zu Uniformen mit Gestapo-Anklängen und modernen Trenchcoats. Jorge Cousineaus Videoeinspielungen und John Bishops Licht verstärken die beklemmende Atmosphäre: düsteres Rot für Intrigen, grelles Blau für Aufstände, Gesichter zu Masken der Verzweiflung bleichend.

Einige Bilder sind wirklich brillant: das riesige, schwarz-silberne Fabergé-Ei als Thron und Zeitkapsel der Macht, aus dem Boris in der Sterbeszene wie ein unsterblicher Koschtschej dem Märchen entsteigt – ein finsteres, schwarzes Loch der Geschichte; der Gottesnarr mit seiner aufblasbaren Weltkugel à la Chaplin im „Großen Diktator“; die absurde, quirlig animierte Enten-Sequenz in der Wirtshausszene, die für einen kurzen Moment befreiendes, schwarzes Gelächter erlaubt. Leider werden genau diese starken Ideen überstrapaziert: Die Eier tauchen zu häufig auf (Krönungsei, Thron-Ei, Narr schlüpft daraus), der Narr ist praktisch omnipräsent – kriecht gar aus Boris‘ Schoß, wird von biblischen Kind-Ikonen verspottet und geprügelt – und verliert dadurch an Wucht, die Ente schrammt haarscharf am Klamauk vorbei.

Was als präzise Metapher beginnt, verflacht durch Wiederholung und wirkt stellenweise selbstverliebt. In der Personenführung bleibt es oft bei Andeutungen. Im Libretto werden Rollencharaktere wie Warlaam und Grigori genau beschrieben. Nur ist davon nichts zu sehen. Warlaam sieht zu jung und sauber aus. Und der auffällige Grigori, Warzen im Gesicht und ein kurzer Arm, kommt wie ein aus dem Ei gepellter Tenor daher – eine verrückte, psychisch labile Ratte, die die manipulierte Masse karikiert.
Manche Video-Projektionen und technische Spielereien im Polen-Akt wirken eher wie Möglichkeitsdemonstrationen denn als zwingende Notwendigkeit. Und doch wird dieser Abschnitt zum intensiven, opulenten Höhepunkt: ein pompöses Bett im „Rosenkavalier“-Stil als Zentrum von Intrige und Begierde, prächtige barocke Ballkostüme, virtuos bespielte Video-Landschaften für trügerische Idyllen und ein sadomasochistisches Duell zwischen Marina und Rangoni, das an der Grenze des Erträglichen tanzt – mit Peitschenhieben einer neunschwänzigen Katze als Symbol unterdrückter Gelüste. Am Ende steht ein opulenter, manchmal etwas beliebiger Gemischtwarenladen der Machtsymbolik – faszinierend anzusehen, aber nicht immer stringent. Dennoch: Warner nimmt Mussorgski ernst, lässt dem Zuschauer reichlich Assoziationsraum und vermeidet jede platte Aktualisierung. Das ist in der heutigen Zeit viel wert.
Gesanglich gab es recht deutliche Unterschiede. Der unumstrittene sonorste Sänger des Abends ist Andreas Bauer Kanabas als Pimen. Bei seinen ersten Tönen kann man unfreiwillig denken, dass hier der eigentliche „Boris Godunow“ singt. Sein orgelgleicher, substanzreicher, tief grundierter Bass strahlt in jeder Phrase Autorität, Weisheit und abgründige Tiefe aus. Er singt mit einer Souveränität und Klangfülle, die sofort an die große Tradition denken lässt und mühelos die Bühne beherrscht – ganz große Klasse, die stärkste Leistung des ganzen Ensembles.

Alexander Tsymbalyuk in der Titelrolle ist das genaue Gegenteil. Figürlich gibt er einen imposanten, würdevollen, statuarischen Zaren, doch stimmlich bleibt er ein hoher, schlanker Bass ohne das nötige dämonische Zentrum und die bassige Sonorität. Alle Töne sind da, technisch sauber und korrekt, aber es fehlt die vokale Substanz, das seelische Gewicht, das Charisma. Seine Wahnsinnsausbrüche wirken eher plötzlich und von außen aufgesetzt als aus der Figur geboren; die Verzweiflung bleibt blass, die innere Zerrissenheit wird nicht wirklich greifbar.
Tsymbalyuk ist eine solide, handwerklich einwandfreie Besetzung – aber weit entfernt von den großen historischen Boris-Interpreten wie Nesterenko, Ghiaurov, Talvela oder gar Christoff, an die man bei dieser Partie unweigerlich denkt. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch in den früheren Produktionen an diesem Haus mit Victor Braun und Franz-Ferdinand Nentwig keine Bässe als Boris besetzt waren.

Dmitry Golovnin singt einen hell timbrierten, kultivierten Grigori, bleibt aber in der Charakterzeichnung etwas farblos und kann in den heldentenoralen Anflügen seiner Rolle nicht ganz das erforderliche stimmliche Gewicht aufbieten. Sofija Petrović gibt eine stimmlich kräftige, verführerische Marina mit slawischem Timbre und deutlichen Akzenten. Thomas Faulkner ist ein bedrohlich-schleimiger Rangoni mit wuchtigem Bass. AJ Glueckert träufelt allzu harmlos als Schuiski sein vokales Gift, Claudia Mahnke stürmt als Wirtin, Inho Jeong poltert derb-komisch als Warlaam. Anna Nekhames ist eine anrührende Xenia, die sich mit feinem Sopran für höhere Aufgaben empfiehlt und Karolina Makula gibt als Fjodor der Rolle starkes Profil.
Das Ensemble ist durchweg ordentlich, bleibt jedoch – wenig überraschend bei überwiegend nicht russischsprachigen Sängern – in der sprachlichen Schärfe und Charaktertiefe meist zu poliert, zu glatt, zu wenig rau und akzentuiert. Vieles klingt schön, aber ohne jene „Fühlsprache“, die Mussorgski braucht. Einzig der Chor, Extrachor der Oper Frankfurt und der Kinderchor sind durchgehend grandios. Álvaro Corral Matute hat hier eine vorzügliche Einstudierung realisiert: klangprächtig, rhythmisch präzise, dramatisch auf den Punkt – sie sorgen für die wenigen echten, beklemmenden Gänsehautmomente des langen Abends.

Leider enttäuscht an diesem Abend Thomas Guggeis am Pult des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters. Wer sein glühendes, schneidend scharfes Lady-Macbeth-Dirigat hier erlebt hat, traut seinen Ohren kaum. Diese Boris-Version klingt zu kontrolliert, farblos, geradezu gedrosselt. Schostakowitschs eingebaute harmonische Reibungen, die eruptiven Spitzen, die mechanische Kälte und der sarkastische Biss werden systematisch geglättet. Das Schlagwerk agiert dumpf statt beißend, die Bläser matt statt alarmierend, das gesamte Orchester bleibt merkwürdig unterfordert und darf nie wirklich in die Vollen gehen. Guggeis scheint der Partitur zu misstrauen und hält alles auf mittlerer Flamme – eine herbe Beeinträchtigung gerade in dieser Fassung, die von genau jener orchestralen Schärfe lebt, die hier konsequent vermieden wird. Das Orchester selbst spielte auf hohem Niveau, kann aber deutlich mehr leisten, wenn es darf.

Fazit: Keith Warner liefert eine werkdienliche, visuell opulente, konzeptuell kluge Inszenierung mit vielen starken und interessanten Ideen, die sich jedoch teilweise zu sehr in ihrer eigenen Bildwirkung gefällt und durch überstrapazierte Einfälle (Eier, Narr, Ente) an Schärfe einbüßt. Dazu kommt ein zu zahmes, farbloses Dirigat von Thomas Guggeis und ein Titelrollendarsteller ohne die nötige vokale Substanz und Ausstrahlung. Bleiben der herausragende Pimen von Andreas Bauer Kanabas, die grandiosen Chöre und die seltene Chance, die Schostakowitsch-Fassung komplett zu erleben. Eine Produktion mit Licht und Schatten – sehenswert für alle, die Mussorgski ernst nehmen, aber keine neue Referenzaufführung.
Dirk Schauß, 22. November 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Modest P. Mussorgski (1839-1881), Boris Godunow Oper Frankfurt, 6. November 2025
Modest Mussorgsky (1839-1881), Chowanschtschina Staatsoper Unter den Linden, 2. November 2025
Modest P. Mussorgsky, Boris Godunow Staatsoper Hamburg, 8. Oktober 2024
Blu-ray-Rezension: Mussorgsky, Boris Godunow klassik-begeistert.de, 1. August 2023