Yuriy Kerpatenko Foto: Facebook
Russische Soldaten erschossen den Dirigenten nach seiner Verweigerung an einem Propagandakonzert teilzunehmen.
von Charles E. Ritterband
In der von Russland besetzten südukrainischen Stadt Kherson haben russische Soldaten laut Angaben des Kulturministeriums in Kiew den namhaften Dirigenten Yuriy Kerpatenko in seinem Haus erschossen, nachdem sich der Musiker geweigert hatte, an einem Propagandakonzert im Auftrag der russischen Besetzer teilzunehmen. Mit diesem Konzert wollte die russische Besetzungsmacht laut dem ukrainischen Kulturministerium demonstrieren, wie sich das „friedliche Leben“ im „befreiten“ Kherson „verbessert“ habe. Kerpatenko sollte das Konzert am Pult des Gileya Kammerorchesters dirigieren, dessen Chefdirigent er war. Er fungierte auch als Hauptdirigent des Mykola Musik- und Dramatheaters. Auf seiner Facebook-Seite hatte Kerpatenko bis im Monat Mai Botschaften gepostet, welche sich gegen die Besetzung von Kherson und gegen die russischen Besetzer gerichtet hatten.
Die für Kherson zuständige Staatsanwaltschaft hat eine Untersuchung eingeleitet wegen „Verletzung des Kriegsrechts, kombiniert mit gezieltem Mord“. Die Familienmitglieder Kerpatenkos haben laut ukrainischen Angaben seit September den Kontakt mit dem Dirigenten verloren. Die Verurteilung des Mordes durch die Weltöffentlichkeit erfolgte umgehend. So erklärte die finnisch-ukrainische Dirigentin Dalia Stasevska, welche die legendäre „Last Night“ der Londoner „Proms“ in der Royal Albert Hall dirigieren sollte – die Vorstellung wurde wegen des Todes der Queen abgesagt –, dass das russische Prinzip „Anpassung oder Tod“ gegen Künstler nichts Neues sei. Dies sei während Hunderten von Jahren gängige Praxis gewesen. Sie habe „zu viel Schweigen“ seitens russischer Kollegen gesehen, sagte die Dirigentin. „Wäre es jetzt nicht an der Zeit für russische Musiker – insbesondere jene, die im Ausland tätig sind – endlich aufzustehen und eine klare Haltung gegenüber dem russischen Vorgehen in der Ukraine zu beziehen?“ Es sei klar, dass das russische Regime systematisch gegen Journalisten, Künstler und Lokalpolitiker vorgehe, welche sich gegen die Besetzung stellen. Das Mykola-Theater, in dem Kerpatenko tätig war, ist benannt nach Mykola Kulish, einem ukrainischen Schriftsteller, der am 3. November 1937 zusammen mit 289 anderen ukrainischen Schriftstellern von russischen Soldaten erschossen wurde.
Der in St. Petersburg geborene Dirigent Semyon Bychkov meldete sich aus Paris, wo er ein Konzert der tschechischen Philharmonie leitete. Er sprach von der „tragischen Ironie“, wenn die Rede sei von der Überlegenheit und dem Humanismus der russischen Kultur – während die Russen jetzt hingehen und jemanden ermorden, der tatsächlich Schönheit ins Leben der Menschen gebracht habe. Das sei „zum Kotzen“, fügte Bychkov hinzu. Der Romanschriftsteller Andrey Kurkov („Der Tod und der Pinguin“) sagte, dass nunmehr der Name Yuriy Kerpatenko der Liste ermordeter Künstler in der Ukraine hinzugefügt worden sei. Er komme immer mehr zum Schluss, fügte er hinzu, dass Russland nicht nur ukrainisches Territorium besetze, sondern auch systematisch die ukrainische Identität vernichte, in der Kultur eine wichtige Rolle spiele.
Dr. Charles E. Ritterband, 17. Oktober 2022, für
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