Foto: © Anne Hornemann
„In der heutigen Zeit gibt es durch die Pandemie so viele Schreckensnachrichten, so viele Ängste, dass ich etwas haben wollte, was sehr versöhnlich ist und jeder persönlich spüren kann.“
Richard van Schoor über seine Komposition „Der Tod“ (Auftragswerk der Gluck-Festspiele 2021)
St.-Johannes-Kirche Castell, 18. September 2021
„1000 Jahre …eine vokale Zeitreise mit dem Calmus-Ensemble“
von Leon Battran
Nicht weniger als eine Zeitreise durch 1000 Jahre Vokalmusik hatten sich die Mitglieder des Calmus-Ensembles für ihr Konzert bei den Gluck-Festspielen vorgenommen. Auch wenn die Besetzung mit fünf Stimmen musikhistorisch eher die Ausnahme als die Regel ist, hatte das Leipziger Quintett so manchen musikalischen Schatz ausgegraben. Die Johannes-Kirche im unterfränkischen Castell bot ihnen die passende Kulisse für die überwiegend geistlichen Kompositionen, deren Spannweite von mittelalterlicher Messvertonung bis zur zeitgenössischen Neukomposition nach Gluck reicht.
Im Anfang war das Wort. Das gilt auch für die Musik. In diesem Fall lautet das Wort „Kyrie“ und wird im einstimmigen gregorianischen Gesang intoniert. Alle Stimmen sind im Einklang, ebenso das Zeitmaß. Sie hat etwas Erdendes, diese urtümliche von allem Beiwerk und jeder Ausgestaltung freie Musik.
Demgegenüber klingt es geradezu fremdartig, wenn sich bei Guillaume de Machaut die vier Stimmen verselbständigen. Im „De profundis“ Josquin des Préz’ scheint eine Ordnung wiedergefunden, die natürlich und organisch ist, weniger mathematisch wie bei Machaut. Sie gipfelt in der Reinheit und Schönheit der Musik eines Giovanni Pierluigi da Palestrina. Über Johann Hermann Schein führt der Weg schließlich zu Johann Sebastian Bach. In der Klassik sieht’s im Repertoire eher mau aus, erst die Romantiker um Felix Mendelssohn Bartholdy begeistern sich wieder für die reine A-cappella-Musik.
Fünfstimmigen Sologesang gibt es von Christoph Willibald Gluck eigentlich nicht. Dennoch erklingt hier sein „De profundis“ mit fünf Stimmen, dem Komponisten Richard van Schoor sei Dank, der das Kunststück vollbracht hat, dem vollständigen und dichten vierstimmigen Satz Glucks eine fünfte Stimme hinzuzufügen ohne die Integrität der Komposition zu verletzen.
„Ich habe hier manchmal etwas schreiben müssen, was nicht von Gluck ist, aber das ist so dezent gemacht, dass es kaum auffällt, wenn man es hört. Trotzdem ist es natürlich da“, erklärt mir der Komponist im persönlichen Gespräch.
Auch das nächste Stück mit dem ebenso schlichten wie tiefschürfenden Titel „Der Tod“ entstammt der Feder Richard van Schoors. Es ist ein Auftragswerk, das im Rahmen der Gluck-Festspiele uraufgeführt wird, und beruht auf Glucks Vertonung einer Ode von Friedrich Gottlieb Klopstock.
Auf die Frage, ob es sich eher um eine Bearbeitung oder um eine Neukomposition handelt, sagt Richard van Schoor: „Ich habe Raum für beides gelassen. Gluck hat nur eine Melodie mit Begleitung komponiert. Was ich damit gemacht habe, ist, diesen Titel „Der Tod“, der eigentlich im Text nicht vorkommt, mitzuverarbeiten, damit er hörbar wird und eine Wirkung an sich bekommt.“
Dabei löst sich Richard van Schoor nicht nur von der Gluck-Vorlage, sondern auch vom konventionellen Gesang, lässt die SängerInnen flüstern, verlangt Obertongesang. Trotzdem sollte Gluck sich auch musikalisch in dieser Komposition wiederfinden:
„Ich wollte diesem Konzept Tod etwas sehr Weiches und Einladendes geben und nicht etwas Erschreckendes. Gerade in der heutigen Zeit gibt es durch die Pandemie so viele Schreckensnachrichten, so viele Ängste, dass ich etwas haben wollte, was sehr versöhnlich ist und jeder persönlich spüren kann. Dafür wollte ich die harmonische Schlichtheit von Gluck beibehalten, ohne dass die Musik fahl wirkt. Im letzten Teil habe ich einige Harmonien reingenommen, die Gluck so ganz sicher nicht gewählt hätte. Die sind aber sehr flüchtig und lösen sich in ihrer Reibung schnell wieder auf. Ich habe einfach weitergedacht, was die Musik will und was der Text will, ohne damit zu gönnerhaft oder zu lieblich umzugehen. Das war meine Idee, etwas zu machen, was aus der Musik kommt ohne zu viel Manipulation.“
Die sehr unterschiedlichen Stücke interpretierte das Calmus-Ensemble präzise und klangschön: Sopranistin Anja Pöche als klare und sichere Oberkante der Musik, Maria Kalmbach mit makellosem, schlank geführtem Alt. Akzente setzen konnte Friedrich Bracks, der auch im höheren Register den stärkeren tenoralen Sound behält und nicht, wie es oft zu hören ist, mit zu viel Kopfstimme resoniert. Der Bariton Ludwig Böhme ist bereits seit dessen Gründung 1999 im Calmus Ensemble aktiv und schließt klanglich die Lücke zu Manuel Helmeke und seinem ruhig und verlässlich geführten Bass. Dabei agierten die MusikerInnen stets gemeinsam und konnten zeigen, wie gut sie als Ensemble aufeinander abgestimmt sind.
Applaus ließ bis zum Konzertende auf sich warten, war dann aber umso herzlicher und durchaus frenetisch. Quittiert wurde er mit einem Exkurs in die Welt des zeitgemäßen A-cappella-Gesangs mit – was wäre im kirchlichen Kontext passender gewesen – einem verjazzten Arrangement von Leonard Cohens „Hallelujah“.
Leon Battran, 20. September 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at