CD-Besprechung:
Ein Fazit? Wer glaubt, die Musikgeschichte sei längst vollständig erzählt, irrt. Hier gibt es Stimmen, die fast vergessen waren und plötzlich wieder hörbar werden. Und das Schönste: Diese CD klingt nicht nach „Pflichtprogramm für Spezialisten“, sondern nach Musik, die man einfach gerne hört. Lebendig, überraschend, manchmal ein bisschen sperrig, aber immer packend. Kurz: eine echte Entdeckung.
American Dream
Ludmila Berlinskaya, Klavier
Arthur Ancelle, Klavier
Orchestre Victor Hugo
Alpha Classics, ALPHA 1171
von Dirk Schauß
Manchmal landet eine CD auf dem Schreibtisch, die so gar nicht ins übliche Raster passt. Kein Beethoven, kein Ravel, keine abermals aufpolierte Schubert-Sonate. Sondern Musik, die man gar nicht kennt, geschweige denn im Ohr hat.
Alpha Classics hat mit dieser Neuerscheinung genau so etwas gewagt: drei Werke, drei Komponisten, alle mit Bezug zu den Vereinigten Staaten – und alles andere als alltäglich. Amy Beach, Nadine Dana Suesse und Victor Babin heißen die Namen, die hier ans Licht geholt werden. Drei Lebensgeschichten, die zwischen Neuengland, Kansas City und Moskau wurzeln, und drei Partituren, die unterschiedlicher kaum sein könnten.
Im Zentrum: Ludmila Berlinskaya und Arthur Ancelle. Zwei Pianisten, die spielen, als hätten sie nichts zu verlieren. Manchmal entstand beim Hören der Eindruck, die beiden sitzen sich am Klavier gegenüber und vergessen, dass Mikrofone laufen. Da wird gelauscht, gelacht, geflirtet, gestritten – alles über die Tasten. So ein Duo ist ein Glücksfall. Das Orchestre Victor Hugo? Solide und farbenreich. Jean-François Verdier dirigiert Suesses Konzert mit der Präzision eines Uhrmachers, Laurent Comte legt bei Babin noch eine Spur mehr Drive hinein. Dass da zwei verschiedene am Pult stehen, merkt man, aber eher wie unterschiedliche Farben in einem Bild als wie Brüche.
Und nun Suesses Konzert. 1943 geschrieben, mitten im Schatten des Krieges – aber zu hören ist eher Broadway und Jazzclubs als Kanonendonner. Die Streicher steigen eindringlich ein, die Bläser antworten, und dann preschen die Klaviere los. Plötzlich öffnet sich eine Welt voller Energie, leichtfüßig und doch ernst gemeint. Das Adagio ist der heimliche Höhepunkt: schwebend, wie eine Meditation, die nicht abhebt, sondern den Boden streift. Dies lässt an eine Filmszene denken – eine, in der der Held kurz innehält und die Zeit stillsteht. Das Scherzo dagegen ist pures Vergnügen: ein quirliges Perpetuum mobile, gewürzt mit Glocken und Trommel, das Finale beginnt nachdenklich und endet in einem strahlenden Allegro. Wieso liegt so ein Stück jahrzehntelang in Schubladen?
Amy Beach kommt im Vergleich ganz anders daher. Ihre Suite über irische Melodien ist romantisch gefärbt, aber nicht naiv. Im „Prelude“ wirkt die Musik fragend, beinahe schwer. Dann diese Arpeggien, die eher an Rachmaninow erinnern als an Irland – vielleicht, weil Beach tief in der europäischen Tradition stand. Der Bauerntanz klingt nicht folkloristisch-bunt, sondern rau, widerborstig. Im Satz „Ancient Cabin“ entsteht plötzlich das Bild einer alten Holzhütte im Kopf – man riecht förmlich das Harz, das Holz, die Stille, in der man eigentlich mehr Fragen als Antworten findet. Und dann das Finale: eine Fuge, aber keine trockene. Eher ein ausgelassenes Spiel zweier Virtuosen, die sich gegenseitig jagen.
Victor Babins zweites Konzert schließlich ist die große Überraschung. Hier steckt ein Komponist zwischen zwei Welten: Moskau im Herzen, Amerika im Rücken. Der erste Satz beginnt schwer, ja abweisend, bis das Klavier eine gesangliche Linie einwirft. Da entsteht eine Art Dialog: Orchester und Solisten, die sich aneinander abarbeiten. Der zweite Satz springt vor Energie, wie ein überdrehtes Jazzstück. Dann der dritte Satz: dunkel, langsam, aber mit einer Intensität, die den Atem anhält. Und am Ende – eine Fuge, die so losgaloppiert, dass man kaum hinterherkommt. Die Pianisten stürzen sich hinein, als hinge ihr Leben davon ab.
Zur Aufnahme: Der Klang ist direkt, eher trocken. Kein Samt, kein goldener Hall, den man von großen Konzertsälen kennt. Anfangs lässt sich denken: etwas nüchtern. Aber dann – genau diese Klarheit macht’s. Man sitzt praktisch mit im Raum, hört jede Nuance, jeden Anschlag, jede kleine Verschiebung im Orchester. Nicht schönfärberisch, aber ehrlich.
Und was bleibt nach dem Hören? Vor allem Staunen. Diese Musik – von Suesse, Beach und Babin – hat es verdient, öfter gespielt zu werden. Berlinskaya und Ancelle sind dabei mehr als nur Interpreten, sie wirken wie Überzeugungstäter. Sie spielen mit Brillanz, ja, aber auch mit Seele. Das Orchester hält klug die Balance, nie zu dick aufgetragen, nie zu scheu. Und Vergleiche? Tja – gibt’s kaum. Von Suesse und Babin praktisch nichts, von Beach nur vereinzelt. Diese CD ist also nicht nur eine Aufnahme, sie ist eine Referenz.
Ein Fazit? Wer glaubt, die Musikgeschichte sei längst vollständig erzählt, irrt. Hier gibt es Stimmen, die fast vergessen waren und plötzlich wieder hörbar werden. Und das Schönste: Diese CD klingt nicht nach „Pflichtprogramm für Spezialisten“, sondern nach Musik, die man einfach gerne hört. Lebendig, überraschend, manchmal ein bisschen sperrig, aber immer packend. Kurz: eine echte Entdeckung.
Dirk Schauß, 3. Oktober 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
CD-Besprechung: Maurice Ravel, Nelson Goerner, Klavier klassik-begeistert.de, 2. Oktober 2025